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Geben wir uns mit fertigen Antworten zufrieden?

17. März 2023

In der Geschichte „Die blinden Männer und der Elefant“ untersucht eine Gruppe von Menschen in völliger Dunkelheit einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht einen anderen Teil, wie zum Beispiel die Flanke oder einen Stoßzahn. Dann vergleichen sie ihre Erfahrungen untereinander und stellen fest, dass jede individuelle Erfahrung zu ihrer eigenen, vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerung führt.

Was ist ein Elefant? Er besteht aus festen Säulen, sagt einer. Nein, ruft der andere, er hat lange biegsame Greifer. Er ist ein unwegsames Gebirge, meint wieder ein anderer. Und noch ein anderer sagt: Er hat lederne Flügel. Nein, nein, er hat lange scharfe Schwerter, widerspricht einer. Ganz und gar nicht, ruft noch ein sechster, er ist ein Büschel von Haaren. So geschieht es, wenn Blinde die Wirklichkeit eines Elefanten ertasten, jeder an einer anderen Stelle, an den Beinen, dem Rüssel, dem Rücken, den Ohren, den Zähnen und am Schwanz – und jeder von ihnen ist überzeugt, dass das, was er gerade erfasst, den ganzen Elefanten ausmacht.

Fertige Antworten?

Eine schöne alte Geschichte, die humorvoll zeigt, wie sehr unsere Vorstellung von Wirklichkeit begrenzt ist in der Bedingtheit des je eigenen Erfassens, und wie blind sie ist in ihrer Vereinzelung und der Überzeugung, die eigene Wahrnehmung sei jeweils die richtige. Eine Geschichte, die nicht nur immer weitererzählt, sondern auch immer wieder erfahren wird. Wie oft tappen wir in die Falle des „Ich habe Recht!“? Wie oft halten wir womöglich gar krampfhaft an einer Wahrheit fest, die wir irgendwann mal für uns gefunden haben? Wie oft geben wir uns mit den fertigen Antworten zufrieden, an die sich unser Gehirn gewöhnt hat und die es deshalb immer wieder reproduziert – auch wenn diese in der sich verändernden Lebensvielfalt eine beständige Überprüfung brauchen?

Nicht bereit für das wirkliche Sehen?

„Von Geburt an blind“ sei der Mann gewesen, den Jesus sah und den er dann von seiner Blindheit heilte, so berichtet es das Johannesevangelium. Eine biblische Erzählung will nicht ärztliche Diagnosen weitergeben, vielmehr erzählt sie in spiritueller Sichtweise von menschlicher Wirklichkeit. Blindheit meint hier das Unvermögen, das Ganze zu sehen. Blindheit meint die je eigene Rechthaberei, das zum Dogma Erklären der eigenen Weltsicht, den alleinigen Wahrheitsanspruch. Manchmal halten sich solche Blindheiten hartnäckig, sie können auch lebenslänglich sein – und sind wie ein Gefängnis eigener Denkgewohnheiten inmitten der Vielfalt von Leben. Jesus aber sah den Blinden an, das heißt, er würdigte ihn voller Ansehen. Jesus erkannte, dass dieser Mensch endlich befreit werden wollte von seiner Blindheit – während all die anderen Blinden, die als Schriftgelehrte drumherum standen und den blinden Menschen vor ihnen als Sünder verurteilten, offensichtlich nicht bereit für wirkliches Sehen waren.

Anschauen und Annehmen

Wie schwer ist es doch besonders für jene, die in Dogmatismus und alleinigem Wahrheitsanspruch hartherzig geworden sind, sich aus dieser Blindheit zu lösen? Zu sehr halten sie fest aus Angst vor Machtverlust. Der von Geburt an blinde Mann aber wollte befreit werden, er wollte sehen können. Wie geschah dies dann? Jesus machte einen Brei aus Erde und Speichel, strich ihn auf die Augen des Blinden und trug ihm auf, sich im Wasser der Schiloach-Quellen zu waschen – da konnte der Blinde sehen. Wovon hier das Johannesevangelium berichtet, ist keine Wunderheilung mit einem Zaubermittel, es ist mit den Zeichen von Erde und Wasser die Erinnerung an eine tiefe Wahrheit des Menschen: von der Erde bist du genommen und zur Erde kehrst du zurück, doch in dir sprudelt die Quelle lebendigen Wassers.

Menschsein ist beides zugleich: ausgesetzt sein in Vergänglichkeit und darin doch aufgehoben sein, getragen, bedingungslos geliebt. Die Salbung mit dem erdigen Brei lässt den Menschen neu sehen mit den Augen der Humilitas; dieses lateinische Wort für Demut kommt ja von „humus“ für Erde. Die Demut ist die Gabe, anzuschauen und anzunehmen, was ist, sie wehrt der Hybris der Selbstüberschätzung, sie schenkt Aufmerksamkeit und verbindet untereinander, sie lernt immer neu und weiß sowohl um ihre tiefe Verwurzelung in Gottes tiefem Erdreich wie um ihre Leuchtkraft in die Dunkelheiten und Ausweglosigkeiten hinein. Denn mit ihr sind die Augen geöffnet, und in ihr ist schließlich der Mut, den es braucht, neue Wege zu gehen.

Christoph Kunz

 

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