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Kratzt am Selbstbild: Moralische Belastung und Verletzung

24. November 2023

Im Jahr 2009 gründet die Katholische Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. die Arbeitsgemeinschaft Ethik mit dem Ziel, ethische Fragestellung im Justizvollzug in Ethikkomitees vor Ort zu beleuchten. Kein leichtes Unterfangen angesichts dem Anspruch der Resozialisierung und der praktischen Wirklichkeiten im Vollzug. Dieser Tage treffen sich in Paderborn 14 TeilnehmerInnen aus dem Bundesgebiet, die in verschiedenen Diensten in Gefängnissen tätig sind. Es ist bereits der 22. Workshop dieser Art.

Im Justizvollzug zu leben oder zu arbeiten ist in jeglicher Hinsicht besonders. Nicht nur Vollzugspläne, Haftraumüberwachung, Freistunden und richterliche Anordnungen setzen Maßstäbe für das tägliche Handeln, sondern gerade die räumlichen und sicherheitstechnischen Grenzen. Dabei läuft bei weitem nicht alles gut für die Inhaftierten wie für die Bediensteten. Personalmangel, politische Vorgaben und das Sicherheitsparadigma verschärfen die Debatten in den Anstalten. An welchem Ort können darin ethische Fragestellungen gestellt werden, die das System strukturell beeinflussen könnten?

Prof. Dr. Sebastian Laukötter, Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster, geht in seinem Impulsvortrag auf die Bedeutung moralischer Verletzungen im Alltag eines Gefängnisses ein.

Diese Frage beschäftigt die TeilnehmerInnen. Sie kommen aus verschiedenen Bundesländern aus dem Allgemeinen Vollzugsdienst (AVD), der katholischen wie evangelischen Gefängnisseelsorge, der Justizverwaltung und aus dem pädagogischen Dienst im Justizvollzug. Gemeinsam setzen sie sich bei diesem fast zweitägigen Workshop im Tagungshaus Maria Immaculata in Paderborn zusammen.

Auf struktureller Ebene Maßnahmen treffen

Prof. Dr. Sebastian Laukötter, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Ethik der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. und Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster, geht in seinem Impulsvortrag auf die Bedeutung moralischer Verletzungen im Alltag eines Gefängnisses ein. Er zeigt mit großer Zustimmung der TeilnehmerInnen des Workshops auf, dass im individuellen Bereich zwar vieles getan werden kann, um mit belastenden Situationen umzugehen, zunächst aber auf struktureller Ebene Maßnahmen zu treffen wären. Paralell zu den Pflegeberufen zeigt er, dass es moralischen Stress und Destress gibt. Er möchte in Zukunft diese Studien vertiefen und mit seinen Studierenden innerhalb der JVAen empirisch dazu forschen.

Inneres Unbehagen und Herzesangelegenheit

Einer der in der Struktur des geschlossenen Erwachsenenvollzuges der JVA Bielefeld-Brackwede arbeitet ist Volker Sander. Er arbeitet als Oberlehrer im pädagogischen Dienst. In der „totalen Institution“ wie die des Justizvollzuges gibt es immer wieder Entscheidungen oder Vorgaben, die umzusetzen sind. Sie können ein inneres Unbehagen bereiten. „Oftmals denken wir nicht weiter darüber nach, da wir es „schon immer so gemacht“ haben. Oder es fehlt uns schlicht im eng terminierten Alltag die Zeit, uns mit diesen inneren Konflikten zu beschäftigen. Nicht immer sind wir als MitarbeiterInnen in der Lage oder willens, ethisch wertvoll zu handeln“, meint er. Ihm ist bei diesem Workshop bewusst geworden, dass auch andere Justizbeschäftigte diese Problematik erleben“, führt er weiter aus.

An Kern ethischer Konflikte herankommen

„Mich fasziniert an den Workshops, dass aus ganz Deutschland Bedienstete verschiedener Fachdienste zusammenkommen und sich die Zeit nehmen, über das nachzudenken, was im Alltag oft verloren geht. Es gibt, obwohl alles richtig und ordentlich läuft, die Erfahrung, dass manches Handeln ein moralisches Unbehagen auslöst. Das anhand von konkreten Fällen in den Blick zu nehmen und gemeinsam zum Kern des ethischen Konflikts vorzudringen, schafft nicht nur Zufriedenheit, sondern neue Handlungsoptionen für die Einzelnen. Und außerdem macht es in der Gruppe einfach Spaß, man fühlt sich wohl und respektiert“, erzählt Katahrina Leniger von der Universität Würzburg. Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Christliche Sozialethik. Sie schreibt ihre Dissertation zur Rolle der Versöhnung für die Resozialisierung, die bald abgeschlossen sein wird. Im Team der Arbeitsgemeinschaft begleitet sie die Prozesse wissenschaftlich.

Fallbesprechung

Konkret wird in einer Fallbesprechung einen Konflikt im Offenen Vollzug angesprochen. Anhand eines Verlaufsrasters wird das Problem zuerst geschildert. Es geht in Ethikkomitees nicht daraum, einen Schuldigen ausfindig zu machen und ein Schwarz-Weiß Denken zu verschärfen. „Um ins Gespräch darüber zu kommen, ist es wichtig, zunächst die individuellen Gefühle auf eine für alle Teilnehmenden nachvollziehbare Ebene zu bringen. Anhand von Beispielen aus der Praxis haben wir daran gearbeitet, ein sprachliches und analytisches System zu entwickeln und anzuwenden, um den ethischen Konflikt aus den Praxisbeispielen herauszulösen und diesen beschreibbar zu machen. Nicht immer sind diese Konflikte lösbar und die Analysen der Konfliktsituationen kosten viel Zeit, aber es tut gut zu erkennen, dass ein von ethischen Werten getragenes Arbeiten für Viele eine Herzensangelegenheit ist“, erzählt der erfahrene Lehrer Sander.

Ethik ist kein Rezeptbuch

Ethik ist nicht dasselbe wie Moral. Diese Unterscheidung ist wichtig. „Moral ist das Gesamt an geteilten Werten und Überzeugungen, aber auch Normen und Regeln (moralische Normen sind von rechtlichen zu unterscheiden). Diese geteilte Moral ist wichtig, sie gibt Handlungssicherheit und Orientierung, sie prägt eine Haltung, aus der heraus wir handeln. Aber: Es gibt nicht nur eine Moral und gängige Moralen können auch fraglich werden. Hier kommt die Ethik ins Spiel. Sie begründet die Moral: Warum ist das richtig oder falsch? Es geht um ein Nachdenken und Ringen um gute Gründe, um Argumente für ein richtig oder falsch“, sagt die Professorin für chritliche Sozialethik, Michelle Becka, von der Universität Würzburg in ihren Publikationen.  „Das war schon immer so“ zählt nicht als ethisches Argument. Ethik ist ein anstrengender Reflexionsprozess, kein Rezeptbuch, sie geht mit der Unterbrechung des Gewohnten einher.

Unterbrechung des Gewohnten

Rainer Töben, Bedienster der JVA Meppen und Mitglied im dortigen Ethikkomitee, drückt bei der Refelxion des Workshops treffend aus: „Der Workshop hat mir sehr gut gefallen. Es gibt viele neue Informationen und andere Sichtweisen zu ethischen/moralische Konflikten. Die fachliche Begleitung und Moderation sowie der rege und ungezwungene (Erfahrungs)-ausstausch mit verschiedenen Berufsgruppen tat mir gut. Es war eine schöne Zeit mit netten Leuten. Ich wäre gern beim nächsten Workshop wieder dabei“, führt Töben würdigend aus.

Michael King

 

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