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Das Gefangen-sein ist ein Bild für unser aller Leben

12. Januar 2023

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, sehe ich, dass ich schon einen langen Weg zurückgelegt habe. Ich komme von weit her. Eine Wegstrecke, die mich besonders stark geprägt hat, waren die 16 Jahre, in denen ich jeden Tag zum Gefängniskrankenhaus auf den baden-württembergischen Hohenasperg hochgelaufen bin, hinauf zum Tränenberg. Ja, es ist zum Heulen, was sich hinter der Mauer alles verbirgt, was sich hinter Schloss und Riegel alles abspielt.

Bei den Eingeschlossenen-Ausgeschlossenen habe ich das Leben von unten gesehen. Und von unten siehst du mehr als von oben. im  Krankenbett siehst du mehr als in der Hängematte. Am Rollator, im Rollstuhl mehr als im Rolls Royce. Durch die Begegnung mit den Gefangenen habe ich gelernt zu beten wie indigene Menschen: „Großer Geist hilf mir, dass ich keinen richte, ehe ich nicht einen halben Mond lang in seinen Mokassins gegangen wäre.“ Hätte ich auch nur 14 Tage in den Schuhen der anderen gesteckt, wer weiß, ob ich dann nicht auch gestrauchelt, gefallen, straffällig geworden wäre. Um zu Menschen hinter der Mauer zu gehen, musste ich morgens kein Opfer bringen. Ich bin gerne zu den Gefangenen hingegangen. Denn ich hatte das Gefühl: Dort gehöre ich hin. Das ist mein Platz im Leben. Ja, es hat mich zu den Menschen hingezogen, die andere abstoßen. Ich habe mich wohl gefühlt unter Kriminellen.

Auf dem Weg zu einem der Gebäude der Justizvollzugsanstalt im Jugendvollzug der Justizvollzugsanstalt Herford. Fotos: Julia Steinbrecht, KNA

Selbst im Käfig sitzen

Das mag kein gutes Licht auf mich werfen, aber ich trage auch den dunklen Bruder in mir und habe ein paar Leichen im Keller. Im Gefängnis treffe ich Menschen, die das getan haben, was in mir ebenso schlummert. Nein, ich hätte keinen Banküberfall machen können. Dazu hätte ich viel zu viel Angst. Aufgrund meiner Sozialisation und Erziehung sind bei mir Sicherungen und Bremsen eingebaut, die mich daran hindern, mein kriminelles Ich auszuleben. In manchem Straftäter begegne ich meinem nicht-gelebten Leben. Und das kann durchaus anziehend sein. Es hat auch etwas Faszinierendes in den tiefsten Abgründen zu schauen und zu sehen, wozu Menschen alles fähig sind.

Vielleicht hat das Gefängnis mich auch so angezogen, weil ich selbst in einem Käfig sitze. Bin ich vielleicht zu den Inhaftierten gegangen, um aus meiner eigenen Zelle herauszukommen? Nein, es waren sicher nicht nur edle Motive, die mich bewogen haben, zu den Eingeschlossenen zu gehen. Möglicherweise bin ich ins Gefängnis gegangen, um meine Schuldgefühle abzutragen. Ich fühle mich den Pechvögeln gegenüber schuldig, die in der Lebenslotterie nicht so viel Glück hatten wie ich. Es ist nicht mein Verdienst, dass ich ein so gutes Los gezogen habe. Indem ich Straffälligen helfe, hoffe ich – auch unbewusst – mich von der Last des unverdienten Glücks zu entlasten. Ein wichtiger Beweggrund, die Inhaftierten in ihren Zellen aufzusuchen, war für mich sicher der Mensch Jesus von Nazareth. So wie der Freund der Sünder wollte ich unvoreingenommen auf die Gefangenen zugehen, ohne Berührungsangst, und ohne die Absicht, sie bekehren zu wollen. Ich selbst bin durch die sogenannten Gottlosen Jesus nähergekommen als durch mein Theologiestudium. Bei meinen Zellenbesuchen habe ich Jesus sagen hören: „Ich war gefangen und du bist zu mir gekommen“ (Mt 25,36).

Aus seinem eigenen Gefängnis ausbrechen?

Als ich aus dem Knast draußen war, habe ich gesehen, dass nicht wenige Menschen in Freiheit hinter unsichtbaren Mauern leben. Ihr Gefängnis ist gebaut aus Steinen der Angst, Angst, dass „es“ herauskommt, Angst vor dem Zeigefinger der Nachbarn, Angst vor dem Gerede der Leute. Hinter unsichtbaren Gittern sind viele junge Menschen in ihrer Sucht gefangen. Rund um die Uhr sind die auf der Jagd nach dem Stoff, aus dem die Träume sind. Sie sehnen sich nach dem Paradies. Um high zu sein, müssen sie sich selbst jedes Mal wehtun. Manche müssen sich stundenlang in die Venen stechen, brauchen zehn bis zwanzig Nadeln, bis sie endlich treffen. Die Droge, die das Leben erträglich machen so11 – zerstört es gleichzeitig. Jeder Süchtige möchte aus seinem Gefängnis ausbrechen. Eine oder mehrere Therapien sind nötig. Es gibt viel zu wenig Therapieplätze, so dass manche Drogensüchtige sterben, während sie noch auf der Warteliste stehen. Nicht wenige sind eine Zeitlang clean, aber irgendwann werden sie wieder rückfällig. Es ist die Gier, die Abhängigkeit in ihren Fängen hält. Viele drogensüchtige Frauen sind in einem elenden Kreislauf gefangen. Notgedrungen gehen sie auf den Strich um sich das nötige Geld für den Stoff zu beschaffen. Viele machen „es“ billig – erst recht, wenn sie auf Entzug sind.

Unsichtbare Gefangene

Zu den unsichtbaren Gefangenen gehören psychisch erkranke Menschen, die unter schweren Depressionen leiden. Sie werden von Negativgedanken überschwemmt, sehen alles durch eine dunkle Brille. Sie trauen sich nicht aus dem Haus, weil die Leute ihnen Angst machen. Jede Krankheit kann ein Kerker sein. Wie viele Frauen und Männer liegen da, ans Bett angebunden, eingeschlossen in ihrem kranken Körper!? Andere sind in ihren Schuldgefühlen eingesperrt. Viele Eltern fühlen sich schuldig, dass ihr Kind auf die schiefe Bahn gekommen ist. Und auch nach einem Suizid bleiben bei den Angehörigen vielfach quälende Schuldgefühle zurück. Die gefühlte Schuld ist wie ein inneres Gefängnis, aus dem der Ausbruch nur schwer gelingt. Viele Hinterbliebene sind in ihrer Trauer gefangen. Sie kommen nicht aus ihrer Traurigkeit heraus, können sich nicht mehr freuen. Und immer die Selbstvorwürfe, die den Rucksack der Trauer nur noch schwerer machen. In der Begleitung von Trauernden fühle ich mich oft als Gefangenenseelsorger.

Mir ist allmählich klar geworden, dass Gefangen-sein ein Bild ist für unser aller Leben ist. Wir mauern uns selbst ein, schließen uns selbst ein. Und noch ein Sicherheitsschloss und noch eine Alarmanlage und noch ein Warnsystem. Unsere Zellen s1nd schön tapeziert, wir haben Bier und Wein im Kühlschrank und dürfen sogar im eigenen Auto unsere Runden drehen. Wie weit wir auch fahren, fliegen und fliehen, wir nehmen unserer Gefängnis überall mit. Hinter Gittern sehen wir uns an. Wir können nicht aus unserer Haut, nicht ausbrechen aus unserem Ich. Unvermögen hält uns gefangen. Wir können nicht so, wie wir wollen. Pflichtgefühl und Moral engen uns ein. Wir sind eingeengt durch unsere Rollen, eingezwängt durch Zwänge und Verpflichtungen. Wir stoßen auf unsichtbare Mauern und Gitter. Ob wir deshalb so viel von Freiheit reden? Ja, wir sind frei, Ja zu sagen oder Nein…

Petrus Ceelen | Aus: Was ich Euch noch sagen wollte, S. 34-37

 

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