Beim Amoklauf von Winnenden verliert Gisela Mayer ihre damals 24-jährige Tochter. Sie hat dem Mörder verziehen und dadurch zurück ins Leben gefunden. Gisela Mayer lächelt, wenn sie über ihre älteste Tochter Nina spricht. „Wir haben über jeden Blödsinn gequatscht“, erzählt sie. Immerhin sei Nina Lehrerin gewesen, wie sie selbst. Gisela Mayer spricht in der Vergangenheitsform von Nina. Denn diese Gespräche mit ihrer Tochter gibt es seit dem 11. März 2009 nicht mehr.
An diesem Mittwoch betritt Tim K. mit der Beretta 92 seines Vaters die Albertville-Realschule in Winnenden. Die Referendarin Nina steht mit zwei Kolleginnen am Kopiergerät, als sie Lärm hören. Die drei wollen nach dem Rechten sehen, sie vermuten eine tobende Klasse. Stattdessen treffen sie auf Tim K. Eine der Frauen erkennt die Situation rechtzeitig und flieht. Fünf Schüsse treffen die Tochter von Gisela Mayer tödlich, einige davon, als sie schon am Boden liegt. Auch ihre Kollegin stirbt. Tim K. tötet acht Schülerinnen, einen Schüler, eine Lehrerin und zwei Referendarinnen sowie drei Personen auf seiner Flucht. 13 weitere sind verletzt. Mit dem 113. Schuss schießt er sich selbst in den Kopf und stirbt.
Gisela Mayer hat ihm vergeben
Es war nie ihr Ziel zu vergeben, dahinter steht keine bewusste Entscheidung. „Das ist mir passiert“, sagt Mayer mit ruhiger Stimme. Sie hatte Gottvertrauen, das sie durch diese Zeit getragen hat. Auch hat sie dem Umfeld von Tim K. Fragen gestellt – und durch die Antworten wie nebenbei verziehen. Das sei eine Gnade, findet die 62-Jährige. Damals, im März 2009, konnte sie das noch nicht. Da konnte sie nicht einmal an Tim K. denken. Sie wurde viel zu wütend bei dem Gedanken, dass ein Mensch für den Tod ihrer Tochter verantwortlich war. „In meiner Vorstellung gab es so was nicht“, erzählt sie. Als sie beim Einkaufen von dem Amoklauf erfuhr, vermutete sie, ein Schüler habe ein paar Stühle oder Schaukästen demoliert. „Das kriegen wir schon wieder hin“, war ihr erster Gedanke – die Dimension der Ereignisse konnte sie nicht überblicken. Trotzdem schrieb sie ihrer Tochter eine kurze SMS: „Alles ok?“ Aber Nina antwortete nicht, auch nicht auf Nachfrage. Erst da begann Gisela Mayer sich Sorgen zu machen und fuhr zur Schule. „Meine Vorstellung war: Sie ist mit einer Klasse irgendwo evakuiert, hat aufgeregte Kinder um sich und ich helfe ihr jetzt.“
Es fühlt sich an wie ein Weltuntergang
Gemeinsam mit ihrer jüngeren Tochter, die auch helfen will, gelangen sie schließlich zur Realschule, dem „Zentrum der Katastrophe“. Dort fragt sie nach ihrer Tochter. Nach einer halben Stunde Warten heißt es, es sehe sehr schlecht aus. „Ich habe mich mit aller Kraft gegen den Gedanken gewehrt, ich wollte nicht verstehen, um alles in der Welt nicht“, erinnert Mayer sich. Ihre jüngere Tochter musste ihr sagen, dass Nina tot ist. „Dann ist mir der Boden unter den Füßen weggebrochen. Die Welt verschwindet – das Gefühl vergisst man sein Leben lang nicht“, sagt sie. „Es ist eine Form von Weltuntergang.“ Sie will zu ihrer Tochter, unbedingt. „Ich wollte sie im Arm halten, wie man ein Kind im Arm hält, wenn es hingefallen ist – dann hat man diesen ursprünglichen Impuls: Ich nehme dich in den Arm, ich behüte dich.“ Doch sie darf nicht zu ihrer Tochter, die nur wenige Meter entfernt tot im Schulflur liegt. Damit sollte sie geschützt werden, erklären die Verantwortlichen später. „Das habe ich bis heute nicht überwunden“, so Mayer. Die Familie kann Nina erst am nächsten Tag sehen.
Zum Geburtstag am offenen Grab
Es folgt die Beerdigung an Ninas 25. Geburtstag. Die Familie hatte sich abends zum Feiern versammeln wollen, stattdessen stehen sie an ihrem offenen Grab. Immer noch gibt es in Gisela Mayers Kopf keinen Platz für den Täter. Das kommt erst viel später, als ihr klar wird, dass ihre Tochter nicht durch einen Unfall oder eine Naturkatastrophe umkam, sondern dass dahinter der Entschluss und die Tat eines Menschen standen. Sie will wissen, wie es zu der Tat kommen konnte, und sucht den Kontakt zu seinem Umfeld: Gisela Mayer hat Fragen. Die Familie des Täters will nicht mit ihr sprechen. Anstelle der Familie hört sie zu, wenn andere über ihn sprechen, etwa Freunde aus dem Tischtennisverein. Für Gisela Mayer ergibt sich auf diese Weise das Bild eines Jungen in Not, der verzweifelt war. Sie spricht daher von einer „Menschenkatastrophe“: einer Katastrophe, die menschengemacht ist und durch fehlende Menschlichkeit hervorgerufen wurde.
Der Schütze wurde für sie von der abstrakten Figur „Täter“ erst Tim K. und später schließlich „der Junge“. Heute verstehe sie ihn ein bisschen besser. Das heißt nicht, dass sie seine Tat versteht oder rechtfertigt. Aber sie begreift, dass da ein Junge war, der keine Freude am Leben hatte. „Er wusste gar nicht, was es heißt, Leben zu vernichten, weil er selbst auch nie wirklich gelebt hat“, weiß Mayer heute. Diese Erkenntnis war der Schlüssel zum Verzeihen. Sie hatte anfangs nicht einmal realisiert, dass sie Tim K. vergeben hatte. Es fiel ihr erst auf, als sie danach gefragt wurde. Da merkte Mayer, dass er kein Monster für sie war. Ohne ihren Glauben hätte sie das nicht geschafft, ist Gisela Mayer sicher. Ganz selbstverständlich hat sie viel gebetet, so wie sie es immer schon getan hat. „Ohne Gottvertrauen wäre ich gescheitert“, sagt sie.
Ein Mahnmal für die Getöteten
Zu vergeben ist „das Beste, was mir passieren konnte“, berichtet sie. „Verzeihen heißt für mich Freiheit“, sagt sie. Tatsächlich wirkt die brünette Frau nicht verbittert. Bei dem Gedanken an Nina kommen ihr heute nicht mehr die Tränen, stattdessen ist sie dankbar für die Zeit, die sie hatten. „Ich kann wieder mit einem warmen Gefühl an meine Tochter denken.“ Mit ihrer Stiftung gegen Gewalt an Schulen geht Mayer heute mit Projekten und Informationen an Schulen, um weitere Bluttaten wie jene in Winnenden zu verhindern. Das koordiniert sie von ihrem Büro aus, nur eine Querstraße von der Realschule entfernt, in der ihre Tochter starb. Gisela Mayer besucht ihre Tochter oft auf dem Friedhof. Dort liegt Nina in dem Familiengrab, das sie zu Lebzeiten selbst gepflegt hat. Dabei braucht Gisela Mayer diesen Ort zum Gedenken eigentlich nicht: „Sie ist auf eine selbstverständliche Art und Weise in unserem Familienleben da.“
Nadine Vogelsberg | Mit freundlicher Genehmigung: stadtgottes