Doris Schäfer aus der Justitvollzugsanstalt Würzburg führt ein Gespräch mit Constantin Panteley von der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine. Er ist verantwortlich für die Gefängnisseelsorge seiner Kirche. Als es in Kiew zu gefährlich war, ist er mit meiner Frau und seinen sechs Kindern nach Lwiw geflohen. Nun ist er wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt. Als Ehrenamtlicher besucht er ukrainische Gefängnisse.
Lieber Constantin,
wir GefängnisseelsorgerInnen in Deutschland haben uns gefragt, wie es im Moment den Gefangenen in der Ukraine geht. Sie können ja nicht fliehen. Hast du Nachrichten von den Gefängnissen im Land? Aber zuerst: Wie geht es dir? Wo bist du im Moment?
Ich bin jetzt wieder in Kiew, wo ich mit meiner Familie lebe. Zu Beginn der russischen Angriffe, als es in Kiew zu gefährlich war, bin ich mit meiner Frau und den sechs Kindern nach Lwiw geflohen. Die Evakuierung war sehr schwierig. Die Straßen waren alle verstopft und nirgends gab es sichere Routen. Seit Mitte April bin ich wieder in Kiew. Ein paar Tage später kam auch meine Frau mit vier unserer Kinder zurück. Die beiden ältesten sind in Lwiw geblieben, weil sie dort in eine humanitäre Hilfsaktion eingebunden sind.
Wie ist das Leben jetzt in Kiew?
Naja, die Rückfahrt war schrecklich. Unterwegs fuhr ich an vielen kaputten Teilen militärischer Technik vorbei. Aber auch viele zivile Fahrzeuge lagen im Straßengraben, weil sie vom Gegner beschossen worden waren. Jetzt sind zwar schon viele wieder in der Stadt, aber man sieht kaum Menschen auf der Straße. Kinder sieht man nirgends. Kiew gilt als sicher, aber es gibt trotzdem zwei- bis dreimal in der Nacht einen Alarm. Sie schießen immer wieder mit Raketen auf Kiew. Vor allem die Tankstellen werden beschossen. Benzin ist mittlerweile wirklich Mangelware.
Und wie sieht es in den Gefängnissen aus? Hast du Informationen?
Seit Mitte April ist es uns Seelsorgern wieder möglich, in die Gefängnisse zu gehen. Bevor der Krieg begann, war ja schon Corona. Wir durften über ein Jahr die Gefängnisse nicht mehr betreten. Wir Seelsorger gehören nicht zu den Mitarbeitern. Wir zählen als Ehrenamtliche und wurden somit nicht reingelassen. Wir konnten Sachen reinschicken oder über Skype mit einzelnen Gefangenen sprechen. Seit kurzem bekommt immer nur ein Seelsorger zweimal in der Woche Zutritt zum Gefängnis. Das heißt, wir müssen uns ökumenisch absprechen und abwechseln.
Warst du auch schon dran?
Ich war zum Beispiel heute im Gefängnis. Heute ist der internationale Tag des Kindes. Wir waren deshalb in einem Jugendgefängnis und haben in einem Frauengefängnis Frauen auf der Mutter-Kind-Station besucht.
Kannst du etwas über die Situation der Gefangenen erzählen? In Deutschland kommen darüber keine Nachrichten an. Es wurde nur zu Beginn des Krieges berichtet, dass Gefangene freigelassen wurden, damit sie für ihr Heimatland kämpfen können.
Okay, das muss ich gut erklären, damit es nicht falsch verstanden wird. Das galt nur für wenige Gefangene. Schließlich hat man keine gefährlichen Leute freigelassen und ihnen auch noch Waffen in die Hände gegeben. Das galt nur für Gefangene, die wegen geringfügiger Vergehen inhaftiert waren und die schon Erfahrungen mit Waffen besaßen oder vorher beim Militär waren. Ein Richter musste entscheiden, wer tatsächlich freigelassen werden konnte. Wir hatten etwa 49.000 Gefangene vor dem Krieg. Freigelassen wurden nur 337 Gefangene.
Wie ist die Situation aller anderen Gefangenen?
Wir hatten 109 Gefängnisse. Davon sind jetzt nur noch 79 intakt. Die anderen mussten evakuiert werden. Das war oft sehr schwierig. Die Gefangenen mussten in andere Gefängnisse verlegt werden. Sie konnten nichts mitnehmen. Und es war nicht einfach, sie in anderen Gefängnissen unterzubringen, ohne gewisse Standards zu verletzen. Teilweise haben sogar Soldaten bei der Evakuierung mitgeholfen.
Wo war denn die Situation besonders schlecht?
In Mariupol zum Beispiel. Dort wurde ja alles bombardiert. Natürlich auch die Gefängnisse. Dort gab es vorher ein großes Frauengefängnis und ein Gefängnis für Männer mit leichten Vergehen. Wie viele Gefangene gestorben sind, kann ich im Moment nicht sagen. Das wissen wir nicht, aber es waren bestimmt nicht wenige. Zu den Kollegen vor Ort haben wir schon länger keinen Kontakt mehr. Ich weiß, dass die Gefangenen, die überlebt haben, jetzt auf Gefängnisse in den schon vorher besetzten Gebieten des Donbass verteilt wurden. Die Gefängnisse in den eroberten Gebieten wie in Cherson, die nicht zerstört waren, wurden mit Kriegsgefangenen aufgefüllt. Da es aber eine Trennung von „normalen“ Gefangenen und Kriegsgefangenen geben soll, werden die „normalen“ Gefangenen in andere Anstalten weiterverteilt.
Wurden nur in Mariupol die Gefängnisse zerstört?
Am 10. März gab es 33 Gefängnisse, die in den Kampfzonen lagen. Von diesen wurden fünf komplett zerstört. Von Charkiw konnten die Gefangenen vorher noch evakuiert werden. In Mariupol und Cherson war das nicht möglich. Das war auch für das Personal schwierig. Denn das Personal musste ja bei den Gefangenen bleiben. Sie haben teilweise dort auch übernachtet, weil es auch für sie nicht möglich war, das Gefängnis zu verlassen. Nach der Eroberung wurde das Personal als Kriegsgefangene genommen, auch wenn sie keine Soldaten sind.
Ist vom Personal in den Gefängnissen niemand ins Ausland geflohen?
Doch, eine ganze Reihe des weiblichen Personals. Aber deswegen mussten alle Männer bleiben. Man kann ja die Gefängnisse nicht ohne Personal lassen.
Wie war oder ist denn die Versorgungslage in den Gefängnissen?
Am Anfang war die Logistik zusammengebrochen. Da war es nicht immer ganz einfach, genügend Essen und Medikamente zu liefern. Es war sehr schwierig, die Logistik wieder aufzubauen. Das wurde von Lwiw aus organisiert Aber alle haben mitgeholfen. Teilweise auch die Bevölkerung. Jetzt läuft es wieder einigermaßen.
Ich kann mir vorstellen, dass die Gefangenen sehr froh sind, dass ihr wieder kommen könnt.
Constantin: Ja, es gibt ein großes Bedürfnis zu reden. Es gibt viele Fragen und viele religiöse Bedürfnisse.
Doris: Es freut mich, dass dieses Gespräch geklappt hat und wir in Deutschland jetzt etwas mehr über die Situation der Gefangenen wissen, auch wenn es doch im Großen und Ganzen keine guten Informationen sind. Die Nachrichten aus Mariupol machen sehr traurig. Aber ihr sollt wissen: Wir denken an euch und beten für euch. In der JVA Würzburg gibt es in der Kirche eine Gebetswand, an die die Gefangenen schon viele Gebete für die Ukraine und Bitten um Frieden geheftet haben.
Constantin: Es tut gut zu wissen, dass wir nicht vergessen sind und dass ihr an uns denkt. Ich habe mich wirklich gefreut über die Möglichkeit, von uns zu erzählen und euer Interesse zu spüren. Wir wissen, dass ihr in Deutschland viel für uns tut. Gott segne euch und euer Land.
Doris: Möge Gott auch euch beschützen und segnen! Danke für das Gespräch!
Das Gespräch führte Doris Schäfer online am 1. Juni 2022