Sein Verhalten im Vollzug galt als vorbildlich. Nichts sprach gegen den Inhaftierten Peter T. Er sollte in den „offenen Vollzug“ verlegt werden, nachdem er sich während einer Beurlaubung bewährt hatte. Der Urlaub war genehmigt. Seine Frau wollte ihn abholen. Doch seine Akte war unauffindbar. „Ohne Akte kein Urlaub.“ Da nützte kein Zureden und kein Zeugnis. Mir wollte als das Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Werl das nicht einleuchten. Ich machte mich auf die Suche. Die letzte nachvollziehbare Position war der Abteilungsbeamte, der die Akte nach der Konferenz unter Zeugen in das Fach für die Vollzugsgeschäftsstelle gelegt hatte. Danach verlor sich die Spur.
Ich suchte und fragte an allen nur möglichen und mir denkbaren Stellen und Beamten, lief von Fachdienst zu Fachdienst, überprüfte die Akten anderer Inhaftierter, ob da irgendetwas zwischen lag, was nicht hineingehörte. Die Akte des Peter T. war und blieb verschwunden. Einige Bedienstete schauten mir nach meinem Eindruck schmunzelnd und lächelnd nach, als wollten sie sagen: lass den armen Irren doch machen; der lernt es auch noch. Monate gingen ins Land. Ab und zu fragte ich wieder nach, ob die Akte aufgetaucht sei. Für Peter T. hielt ich einige Sonderbesuche mit seiner Frau im Besucherbereich ab. Einerseits resignierte die Frau und tendierte in Richtung Verzweiflung. Bei Peter T. andererseits wuchsen Zorn, Bitterkeit und Hass. Längst hätte er im „offenen Vollzug“ und der Entlassung näher sein können. Solange seine Akte nicht wieder da war, hatte er keine Chance. Wer sich so hinterhältig gegen ihn stellte, ahnte er nicht. Er hatte keine Erinnerung, jemand „auf den Fuß getreten“ zu haben.
Verlorene Akte des Peter T.
Anfang September kam ein Psychologe auf mich zu. Ich hätte ihn vor Monaten nach einer Akte gefragt. Ob die das sei, die er in der Hand hatte. Tatsächlich: sie war es. Von sich aus sagte er: “Die habe ich ganz unten in meinem Schreibtisch gefunden. Als ich in Urlaub ging, hat sie da nicht gelegen. Ich hatte nämlich alles durchgesehen und aufgeräumt. Heute bin ich zufällig hier, weil ich etwas suchte. Der Urlaub geht noch zwei Wochen. Wahrscheinlich wäre sie dann nicht mehr dort gewesen.” Erleichtert ging ich zur zuständigen Konferenz und präsentierte das kostbare Stück der Runde, die von Abteilungsleiter über Fachdienste bis hin zu Abteilungsbeamten baff waren und kein Wort rausbrachten. Der Abteilungsleiter fasste sich als Erster und begann schallend laut zu lachen, wie er es oft tat, um sich aus einer Verlegenheit zu retten. Er wollte wissen, wie und wo „das Schätzchen“ herkomme. Dann sollte ich ihm die Akte geben, damit er alles weitere veranlasse. Immer noch an der Tür stehend antwortete ich: „Die bringe ich lieber selbst zur Vollzugsgeschäftsstelle. Sonst geht sie unterwegs wieder verloren.“ Rundum sah ich in staunend bange Gesichter und war zur Tür raus. Peter T. wurde sofort in den „offenen Vollzug“ verlegt. Der Leiter der Geschäftsstelle verbürgte sich dafür, dass es keine weitere Panne geben wird. Der Antrag war unterschrieben; damit verbindlich.
Ernst Lauven
Geboren 1933, seit 1961 im priesterlich-seelsorglichen Dienst des Erzbistums Paderborn in mehreren Gemeinden sowie in der Kur-, Krankenhaus- und Strafvollzugsseelsorge bis 1996. 1974 Beginn der pastoralpsychologischen Weiterbildung in Klinischer Seelsorge-Ausbildung (KSA), 1987 Anerkennung als Pastoralsupervisor DGfP/KSA. Seit 1999 Lehrsupervisor DGfP/KSA sowie Mitarbeit in den Pastoralkursen im Erzbistum Köln.
Von 1987 bis 1996 arbeitete er in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl. Er war Mitglied im ehemaligen Arbeitskreis kritischer Strafvollzug e.V. Lauven wohnt seit seinem Ruhestand 1996 in Köln.
Verlorene Erinnerungen des Albert B.
Das ist mein Vater!“ sagte Albert B. und legte einen flachen, langen und breiten Stein, mit dem er wie hilflos eine Weile herumgeirrt war. Der von Herrn Klaus, dem Therapeuten, erteilte Auftrag lautete: Legt aus dem mitgebrachten Material etwas, was zu eurer gegenwärtigen Stimmung passt. Albert B. hatte sich sofort den Sack mit Steinen geschnappt und begonnen, ein riesiges Gebilde zu legen. Stein bei Stein ganz dicht. Erst wurde es eine große Kugel. Doch dann – uns stockte der Atem – wurde daraus ein gewaltiger Uterus. Albert B. hatte gewiss keine Ahnung von dem, was er zustande gebracht hatte. 53 Jahre alt, Analphabet, ohne Beruf, seit über 20 Jahren wegen Mord. LL = Lebenslänglich erst einmal für 15 Jahre inhaftiert. Später wird alle Jahre geprüft. im Schnitt beliebt ein “LL´er” etwa 20 bis 25 Jahre hinter Gittern. Mehrmals war versucht worden, ihn in einer Einrichtung unterzubringen, damit er „auf Bewährung“ entlassen werden konnte. Kurz bevor er dort aufgenommen werden konnte, machte er stets einen Rückzieher; meist mit der Behauptung: der „Scheißknast“ will ihn in Wahrheit nur fertigmachen; der würde dafür sorgen, dass er scheitert. Und dann müsse er für ewig hinter Mauern bleiben.
Dieses miese Spiel wolle er nicht mitmachen. Mich sprach er meist auf dem Flur an: “Pastor, ich muss dich sofort sprechen.” Auf seiner Zelle schüttete er vor mir seinen Zorn, seine Enttäuschung und Bitterkeit aus. Etwas wollte er vom Leben doch noch haben; er würde immer älter; wenn es so weitergeht, kann er sich gleich aufhängen. “Die hier tun sowieso nichts für mich. Helfen Sie mir!” Meine „Hilfe“ bestand vor allem darin, dass ich ihm lange zuhörte, aber „hilflos“ war und blieb. Nachdem er sein Werk beendet hatte, hielt er den größten Stein in seinen Händen. Der Therapeut fragte bei einer der letzten Gespräche: “Und was ist mit dem?” Nach einer kurzen Pause legte Alfred B. den Stein vor den Ausgang des Uterus und sagte: „Das ist mein Vater!“ Danach sprudelte es aus ihm heraus. Der Vater wollte nicht, dass er zur Welt kam. Um die Geburt zu verhindern, stieß er seine hochschwangere Mutter eine Treppe hinunter, wodurch die Geburt ausgelöst wurde. Zwischen ihm und dem Vater gab er immer wieder heftigen Streit, der darin gipfelte, dass er den Vater in einem Wutanfall tötete. Erst in seinem Mordprozess erfuhr er die Vorgeschichte zu seiner Geburt. Seine Strafe lautete: Lebenslänglich.
Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire