Alle Menschen in Deutschland sind frei – außer den etwa 60.000 Häftlingen. Wäre die Gesellschaft eine bessere, wenn es keine Gefängnisse gäbe? Und was müssten wir alles ändern, um diese Utopie möglich zu machen? Wenn wir darüber reden, Sexismus, Rassismus und Kapitalismus abzuschaffen, gibt es etwas, was für mich wie eine mit Stacheldraht versehene Gefängnismauer der Utopie im Weg steht: Wie soll eine bessere Welt möglich sein, in der es Knäste gibt?
Also Orte, in denen wir mit Menschen genau das machen, was wir gesamtgesellschaftlich abschaffen wollen: sie überwachen, ihnen Selbstbestimmung absprechen und sie hierarchischen Befehlsstrukturen unterwerfen. Warum die Sache also nicht von der anderen Seite angehen? Vielleicht liegt der Schlüssel zur sozialen Veränderung ja in der Abschaffung von Gefängnissen? Um dem auf den Grund zu gehen, treffe ich mich mit der Autorin und Anti-Knast-Aktivistin Rehzi Malzahn. Im Frühjahr ist ihr Sammelband „Strafe und Gefängnis“ erschienen. Bei Kaffee und Ingwertee stelle ich ihr meine These vor: In Zukunft wäre alles besser, wenn es keine Gefängnisse gäbe. „‚Alles ist mir zu total, aber vieles wäre mit Sicherheit besser“, antwortet Malzahn. „Wobei man jetzt nicht einfach Gefängnisse abreißen und die Gesellschaft ansonsten so lassen kann, wie sie ist. Aber sogar in der Welt, wie sie ist, schaden Gefängnisse mehr, als sie nutzen.“
Haft als Berufsrisiko
Die vorgebliche Funktion von Gefängnissen ist, die Gesellschaft zu schützen und Straftäter zu bessern. Doch, so Malzahn: „Studien belegen, dass sie das alles nicht tun. Gefängnisse sind der gewalttätigste Ort der Gesellschaft. Die meisten Menschen kommen kaputter aus dem Gefängnis raus, als sie reingegangen sind.“ Außerdem wirke Angst vor Strafe nur auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich die gutsituierte Mittelschicht. Für Berufskriminelle sei Haft ein Berufsrisiko. Und dann gebe es eben Verbrechen, die vom Gesetz gar nicht als solche angesehen und deshalb auch nicht verfolgt würden, wie ein Teil dessen, was Banken oder Rüstungsindustrie machen.
Eine meiner Lieblings-Panelshows ist die BBC-Radioserie „Heresy“. Darin lässt die Moderatorin Victoria Coren-Mitchell Comedians gegen weit verbreitete Überzeugungen argumentieren, die vorher durch Publikumsbefragung erhoben werden. 94 Prozent der Zuschauer im Studio waren etwa der Ansicht, Gefängnisse seien zu Billighotels à la Holiday-Ins verkommen, und Haftstrafen müssten härter werden. Der sonst originelle und differenzierte Comedian Richard Osman witzelte: Holiday-Ins sind entsetzlich, das ist eine total harte Strafe. „Erstens ist es nicht so, und, zweitens, wo wäre das Problem, wenn es so wäre?“, entgegnet Malzahn. „Und jetzt können wir reden. Denn: Wieso müssen Inhaftierte leiden? Wie kommst du auf die Idee, dass sie das zu besseren Menschen macht?“ Ja, wo kommt diese Idee her?
Tatsächlich war die Aufgabe der Justiz im europäischen Raum die längste Zeit Schadenswiedergutmachung, nach dem Motto: Du stiehlst mir meine Ziege und musst mir dafür 20 Hühner geben. Erst mit dem Christentum entstand die Vorstellung, dass ein Vergehen kein Schaden mehr ist, den man einer anderen Person zugefügt hat, sondern eine Sünde. Und für eine Sünde büßte man durch Leiden. Das führte über die Jahrhunderte dazu, dass ein Verbrechen nicht mehr als Verletzung einer anderen Person angesehen wurde, sondern als das Verletzen eines Gesetzes. „Die verletzte Person war nur noch Zeuge dieses Gesetzesbruchs“, erklärt Malzahn. „Damit verschwand die Wiedergutmachung für die Opfer aus dem öffentlichen Bewusstsein. Doch auch die Täter verschwanden – nämlich ins Gefängnis.“ Erst mit der Industrialisierung, also ab dem 18. Jahrhundert, tauchen Gefängnisse als Orte auf, wo Gesetzesbrecher dauerhaft untergebracht wurden. Vorher gab es zwar auch Kerker, um beispielsweise Menschen vor ihrer Hinrichtung festzuhalten. Doch lange Gefängnisstrafen waren sehr selten.
Was ist es, was die Person verletzt?
Eine Welt ohne Gefängnisse würde also auch bedeuten, dass wir uns wieder mit den Straftätern auseinandersetzen müssten. Wir müssten uns der Frage der Wiedergutmachung stellen. Danach, wann ein Mensch angemessen Verantwortung für sein Verbrechen übernommen hätte. Und – die größte Hürde – wir müssten überlegen: Wie würden wir mit Menschen umgehen, deren Straftaten nicht nur die Grenzen des Gesetzes überschreiten, sondern auch dessen, was wir als menschlich erachten. „Marshall B. Rosenberg, der Begründer der gewaltfreien Kommunikation, einem Handlungskonzept, das bei friedlicher Konfliktlösung hilfreich ist, hat gesagt: ‚Ich glaube mir meine eigene Herangehensweise erst, wenn ich mich auch in Hitler einfühlen kann.‘“ Okay, verloren. Interview beendet! „Ich habe viel Kritik an der mangelnden Herrschaftskritik von Rosenberg“, stimmt mir Malzahn zu. „Aber man kann von ihm verdammt viel lernen, warum Menschen Dinge tun oder sagen oder denken. Vor allem Menschen, die eine Menge Hass verbreiten.“
Zurzeit führt fast jedes Gespräch über die deutsche Gesellschaft zur gleichen Frage: Was machen wir mit der AfD? Also, Frau Malzahn? „Natürlich macht mir die Auseinandersetzung mit Rechten Angst, und ich habe Widerstände dagegen. Aber es hilft mir, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass auch diese Menschen einmal Babys waren, die voller Offenheit und Liebe auf die Welt gekommen sind. Und was ist passiert, dass aus diesen Kindern so hasserfüllte Erwachsene geworden sind? Es ist sehr schwierig, hier richtig verstanden zu werden. Wenn ich davon spreche, dass es doch interessant wäre, diesen Leuten zuzuhören, dann ist das nicht nur nicht das Gleiche, sondern das genaue Gegenteil von dem, was Politiker meinen, wenn sie sagen, sie müssen auch die Sorgen der Rechten hören.“
Denn das bedeutet zurzeit in der Regel, die Forderungen der Rechten in abgeschwächter Form zu erfüllen. Doch genau darum geht es Malzahn eben nicht, sondern: „Sich hinzusetzen und zu schauen: Was ist es, das diese Person so verletzt hat, welche Not spricht daraus?“ Und ich muss zugeben, dass mir das schwerfällt. Zum Glück gibt es Leute, die das nicht nur können, sondern es beruflich machen, wie der Verein Violence Prevention Network, der beeindruckende Erfolge im Bereich der Deradikalisierung verzeichnet. „Schließlich findet ein Umdenken nicht durch Strafe statt, sondern durch Einsicht. Aber Gefängnisse haben nichts anderes anzubieten als Strafe.“
Das ist richtig, nur haben wir als Gesellschaft als Reaktion auf Verbrechen wenig anderes anzubieten als Gefängnisse. Deshalb fordert Malzahn: Um Verbrechen zu bekämpfen, sollten wir nicht Verbrecher bekämpfen, sondern Verbrechensursachen. Etwa Armut, unsichere Lebensgrundlagen, zu hohe Mieten, Gewalt, oder… die Liste ist so lang, dass ich verstehen kann, dass Gefängnisse zwar nicht der bessere Weg sind, aber auf jeden Fall der einfachere.
Schwarzfahrer im Knast
Was können wir bis dahin tun? „Alle Leute freilassen, die Ersatzzeitstrafen absitzen.“ Ersatzzeitstrafe heißt: Menschen kommen ins Gefängnis, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. „Und davon gibt es eine Menge. Dann sollten wir Drogen entkriminalisieren. Viele Knäste sind randvoll mit Leuten, die da nur wegen ihrer Suchtproblematik sitzen. Ebenso: kostenloser öffentlicher Nahverkehr – ein Berliner Gefängnis ist zu 70 Prozent mit Schwarzfahrern voll.“ Wie bitte? „Ja, die Leute machen sich nicht klar, für was für einen Schwachsinn die Menschen im Gefängnis sitzen.“ Doch was machen wir mit den Menschen, die tatsächlich etwas begangen haben, das wir als Unrecht wahrnehmen? Für den Umgang mit ihnen brauchen wir andere Möglichkeiten zur Unrechtsbewältigung, respektive mehr Wissen über diese anderen Möglichkeiten. Denn es gibt ja bereits einige.
„Außerdem sollte man bei jedem Strafverfahren, bei dem eine Person und nicht etwa eine Institution das Opfer ist, das Angebot von Mediation oder Restorative Justice machen.“ Also Konflikttransformation durch ein Wiedergutmachungsverfahren, sprich, dass Opfer und Täter mit Hilfe einer Mediation aushandeln, was eine angemessene Wiedergutmachung sein könnte, und dass das in den Gerichtsprozess mit einfließt. Ein Verfahren, auf das Opfer in Deutschland eigentlich bereits ein Anrecht haben – nur wird ihnen das in der Regel nicht mitgeteilt. Deshalb sagt Malzahn: „Das würde aber auch bedeuten, dass Restorative-Justice-Möglichkeiten massiv ausgebaut werden müssten.“
Mithu Sanyal | Mit freundlicher Genehmigung: taz
Rehzi Malzahn (Herausgeberin)
Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik und Alternativen
Schmetterling Verlag
Stuttgart 2019