Die bundesweiten Arbeitsgemeinschaften Jugendvollzug der katholischen und evangelischen Gefängnisseelsorge tagen alle zwei Jahre gemeinsam. Die Arbeitsbereiche sind dieselben und von daher lohnt der gemeinsame Blick auf ein Thema des Jugendvollzuges. Die Lebenswelt(en) Jugendlicher und junger Erwachsener und deren Mediennutzung rücken in den Fokus bei der Tagung 2022 im Kardinal Schulte Haus in Bergisch Gladbach. Von hier aus hat man einen Weitblick auf den Kölner Dom.
Das Gefängnisseelsorgeteam aus der JVA Wuppertal-Ronsdorf mit Karl Schwellenbach und Ulrike Hollander sowie aus der JVA Herford, Michael King, bereiten diese Tagung inhaltlich vor. Thema ist die Lebenswelt Jugendlicher mit den sozialen Medien. Die inhaftierten jungen Menschen, die den GefängnisseelsorgerInnen in der Justizvollzugsanstalt begegnen, kommen aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Ihre Lebenswelt(en) sind so unterschiedlich, wie ihre noch in der Entwicklung befindliche Persönlichkeit. In der Mangelwirtschaft des Jugendvollzuges werden neue Probleme verstärkt: Subkulturen, das gegenseitige Hochschaukeln und die Reglementierungen seitens des Vollzuges. Die Abstinenz in der Nutzung von Kommunikationsmöglichkeiten im Knast erzeugt eine große Lücke im Leben Inhaftierter.
“Neue” Medien
Das Smartphone wird Gefangenen im Vollzug entzogen. In der Jugendhilfe wird dieses im Einsatz von Verstärkerplänen mit Wohlverhalten “zurückverdient”, was nicht immer greift. Hier wird ein Spannungsfeld deutlich, denn einerseits sind junge Menschen in ihren jugendkulturellen Zugehörigkeiten geradezu existenziell auf ihr Smartphone angewiesen, andererseits verwehrt ihnen Kinder- und Jugendhilfe und die Inhaftierung systematisch diesen Zugang. Die Referentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta, Annika Gaßmöller, führt aus, dass “die Frage zentral ist, inwiefern junge Menschen Kontakt zu anderen Menschen herstellen bzw. aufrechterhalten können”, sagt die Forscherin in diesem Bereich. Den „neuen“ Medien kommt eine besondere Bedeutung zu. Im Alltag junger Menschen ist ein Leben ohne Smartphone kaum noch denkbar. In Kleingruppen arbeiten die GefängnisseelsorgerInnen unterschiedlichen Alters heraus, dass sie ebenso selbstverständlich die Medienwelt nutzen. Sei es das Online-Banking, die Park-App oder die Nutzung von Google-Map. Quasi die gesamte Identität geht über das Smartphone. Ein Teilnehmer fügt hinzu: “Es geht noch darüber hinaus. Das eigene Image hängt davon ab”, sagt dieser.
Nutzung bei Jugendlichen
Medienkompetenz zu erlernen ist Auftrag und Herausforderung zugleich. Besonders im Jugendvollzug. Wie jede Technik gibt es Gefahren und Vorzüge. Doch ein Verbot bewirkt oft das Gegenteil. Jugendlichen versuchen bei Wegnahme auf illegalen Wegen an ein Handy zu kommen. Hinter den Mauern gelingt dies ebenso immer wieder. Die freie Journalistin, Lisa Jülich, die unter anderem beim WDR Beiträge wie bei der Newsmarke “tickr” in Social Media produziert, informiert die TeilnehmerInnen, welche digitalen Welten von jungen Menschen genutzt werden. Für manche der GefängnisseelsorgerInnen ist dies ein neues Feld. Instagram, Snapchat und Facebook. Letztes ist bei Jugendlichen bereits out. “Der content ist für junge Leute im Alter von 15 bis 25 Jahre langweilig und außerdem hat Facebook ein Imageproblem”, sagt Jülich. Geduldig geht sie auf die kritische Fragen ein, erklärt und zeigt am Bildschirm Beispiele von Posts.
Die andere Seite
Die Referentin verschweigt die andere Seite dieser Technik nicht. Auf Fake-News und “Hate Speech” geht sie ein. Hate Speech bedeutet übersetzt „Hassrede“. In menschenverachtenden Aussagen werden Einzelne oder Gruppen abgewertet. Rechtsextreme und rechtspopulistische Akteure nutzen digitale Räume, um menschenverachtende Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft zu verbreiten. So mancher der Gefangener nutzte beispielsweise TikTok zur Vorbereitung seiner Straftat. Auch hier greift ein Verbot nicht. Vielmehr sollte gemeinsam mit Jugendlichen die Medien genutzt sowie auf mögliche Gefahren hingewiesen werden. Im Jugendvollzug müssen die Inhaftierten Abstinenz von Social Media leben. Das kann auf der einen Seite vielleicht einmal hilfreich sein, aber auf der anderen Seite wird die Nutzung nach der Haft erfahrungsgemäß größer, um alles nachzuholen. Ein Teilnehmer der Gruppe vergleicht die digitale Nutzung mit dem lesen der Illustrierten-Zeitschriften von “früher”. Auch dort wird eine angebliche heile Welt mit allem Klatsch und Tratsch gezeigt. Heute geht es sehr viel schneller und man kann selbst voyeuristisch im Mittelpunkt stehen. Durchschnittlich verbringen Jugendliche aktiv 3,15 Stunden pro Tag im Netz der Social Media.
Hautnahe Begegnungen
Kein Post, kein virtuelles Treffen, sondern eine hautnahe Begegnung führt die Gruppe der GefängnisseelsorgerInnen in den Kölner Stadtteil Vingst. Dort lebt und arbeitet Franz Meurer, ein Pfarrer, der sich den Problemen der Leute in diesem “Problemviertel” annimmt. Die Kirche St. Theodor beinhaltet nicht nur einen runden Kirchenraum, sondern ein Lager von Kinderkleidern, einer Fahrradwerkstatt, einer Tischlerei und eine Essensausgabe. Der Mann der Tat ist auch der Vater eines ungewöhnlichen Kinderreiches, genannt HöVi-Land: Eine überregional bekannte Ferienfreizeit, in der die katholische und die evangelische Kirche alljährlich in den Sommerferien mehrere hundert Kinder aus den Brennpunkten Höhenberg und Vingst betreuen.
Der authentisch wirkende Pfarrer mit blauem Coralhemd und Jeanshose ist ein Charismatiker. Er setzt sich für die Menschen in seinem Viertel ein. Mit seinen 71 Jahren wirkt er weiterhin als Pastor, obwohl er in dieser Funktion nicht mehr tätig ist. Nichtsdestotrotz hält er die Fäden in der Hand, organisiert und begleitet die ehrenamtlichen HelferInnen nicht nur in der Kleiderkammer. “Ich habe kein Instagram, kein Smartphone und kein Fernseher. Für mich ist das normale Telefon am wichtigsten”, sagt er über sich. Mit den GefängnisseelsorgerInnen hat er gemeinsam, dass er nicht konfessionsgebunden arbeitet. Dies betont er immer wieder.
Über den Dächern des Kölner Doms
Nicht auf dem Bildschirm, sondern nahe untere dem Himmel kommen die GefängnisseelsorgerInnen, als sie auf den Dächern des Kölner Doms unterwegs sind. Unter dem Vierungsturm liegt der sogenannte Trigonometrische Punkt der europäischen Gradmessung von 1867, greifbar auf 70 Meter Höhe. Im Jahr 2020 wurde auf diesem Punkt der Aussichtsplattform inmitten des Corona Lockdowns ein Musikvideo mit dem Rapper MoTrip und Patrick Michel Kelly gedreht: “Don´t shut me out, don´t cut me off”, singt Kelly. “Schließ mich nicht aus. Lass den Kontakt zu mir nicht abbrechen” heißt der Text übersetzt. Den Kontakt zu sich findet man nicht alleine im Social Media. Die Erfahrung wahrhaftig einen Augenblick, einen schönen Moment zu erleben, kann ein virtuelles Erleben nicht ersetzen. Davon können nicht nur die GefängnisseelsorgerInnen erzählen.
Michael King