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Weggesperrt. Gefängnisse machen nicht sicherer

25. Mai 2020

Wem nützen Gefängnisse und wo richten sie Schaden an? Unbestreitbar gibt es ein Bedürfnis der Gesellschaft nach Strafe: Wer gegen Gesetze verstößt, soll nicht ungeschoren davonkommen. Den Täter zur Verantwortung zu ziehen, ihn zur Reue anzuhalten, abzuschrecken, den Opfern Genugtuung zu verschaffen und die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen – das sind die Hoffnungen, die sich an Gefängnisstrafen knüpfen. 15 Jahre war Thomas Galli in solch einem Strafvollzug tätig, bevor er 2016 seinen Dienst quittierte. „Ich möchte niemand sein, der für die Abschaffung der Gefängnisse plädiert, aber selbst ein Gefängnis leitet.“ Der promovierte Jurist studierte Kriminologie sowie Psychologie und war zuletzt Leiter zweier Justizvollzugsanstalten in Bayern und Sachsen. Er weiß, worüber er schreibt.

Wer Galli kennt, dürfte kaum überrascht sein, wenn er gleich zu Beginn deutlich macht, worum es ihm geht. Auf die Frage einer Reporterin, was er denn mit den etwa 400 Gefangenen machen würde, wenn es nach ihm ginge, antwortete er unmissverständlich: „Ich würde alle freilassen“, und schreibt weiter: „Als Journalistin freute sie sich über diese »steile These«, als Mensch hatte sie große Zweifel. Wie könnte man Derartiges verantworten? Was ist mit der Sicherheit der Allgemeinheit? Wäre das nicht ein Schlag ins Gesicht aller Kriminalitätsopfer?“ (9) Galli kennt die Bedenken nur zu gut und er versteht sie auszuräumen, indem er der LeserIn die Illusion nimmt, Gefängnisse machten die Gesellschaft sicherer.

Um es vorweg zu nehmen: Nicht alles ist neu und seine Alternativvorschläge zum Strafvollzug sind nicht weiter überraschend: „Dezentrale und offenere Formen des Freiheitsentzuges“, wobei er durchaus Grenzen erkennt (224), „Elektronisch überwachter Hausarrest“, „Gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe“, „Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe“, „Entkriminalisierung von Drogen- und Bagatelldelikten“ und „Ausbau der Bewährungsmöglichkeiten“ (221-234). Sie sollen hier auch nicht weiter diskutiert werden.

Weit interessanter ist sein Perspektiven- und Paradigmenwechsel, der die LeserInnen in Bann nehmen kann: „Um das Gefängnis in seiner jetzigen Form überwinden zu können, bedarf es unser aller Umdenken, unser aller Anstrengungen und auch unser aller Verzicht. Am Ende wird sich dies aber auch für uns alle lohnen.“ (182) Das gilt für die Politik, die zumeist ihre Entscheidungen kurzfristig am Wählerwillen ausrichtet und nicht unbedingt langfristig an dem, was sachlich geboten und wirklich zielführend ist. Das gilt ebenso für die Medien, die teilweise – interessiert an hohen Auflagen – eher Sensationelles berichten und so ein verzerrtes Bild von der Sicherheitslage in unserem Land vermitteln. Merkwürdig muss doch sein, dass zurückgehenden Kriminalitätszahlen ein zunehmendes Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung entgegensteht.Sein Resümee: „Gefängnisse gefährden unsere Sicherheit“ (101ff).

Nach „Die Schwere der Schuld: Ein Gefängnisdirektor erzählt“ (2016, Neuauflage 2019 unter dem Titel „Endstation Knast: Ein Gefängnisdirektor packt aus“) und „Die Gefährlichkeit des Täters“ (2017), „Knast oder Heimat: Erzählungen von Recht und Unrecht“ (2019, 22019) meldet er sich nunmehr ein weiteres Mal zu Wort, und wer ihn kennt, wird gespannt das Buch zur Hand nehmen, in dem er auf über 300 Seiten seine Argumente vorträgt.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis (277-284) sowie fast 300 Anmerkungen lassen eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema erkennen. Das Buch ist mehr als die Abrechnung eines enttäuschten Gefängnisdirektors, der 2016 noch „erzählt“ und 2019 in einer Neuauflage „auspackt“ (2019). „Weggesperrt“ ist ein Weckruf an eine Gesellschaft, die immer noch glaubt, es genüge StraftäterInnen einfach wegzusperren und damit den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.

Thomas Galli: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020, 304 S., 18,00 Euro; als E-Book (EPUP oder PDF) 13,99 Euro

Bedürfnis nach Rache liegt dem Strafdenken zugrunde

So er entlarvt das Gefängnis als „ein trügerisches Symbol“, das weder abschreckend wirkt (107ff) noch für Sicherheit sorgt oder Gerechtigkeit wieder herstellt, und schon gar nicht der Resozialisierung von StraftäterInnen dient (187ff). Das Sicherheitsparadigma, das das von den Strafvollzugsgesetzen geforderte Resozialisierungsgebot untergräbt und den Behandlungsvollzug konterkariert, ist viel zu kurzfristig gedacht und läuft einem langfristigen Sicherheitsdenken grundlegend zuwider. Denn die Gefängnisse sehen sich ausschließlich dafür verantwortlich, für die Sicherheit während des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu sorgen. Und diese dauert in den wenigsten Fälle lebenslänglich. Fast alle StraftäterInnen werden irgendwann entlassen, und über die Hälfte wird wieder straffällig und damit sicherheitsgefährdend. Das Vollzugsziel wird weitgehend nicht erreicht, und niemand wird hierfür zur Rechenschaft gezogen.

Dass das so ist, liegt (auch) an den menschenunwürdigen Haftbedingungen, die die Inhaftierten entmündigen, zur Unselbständigkeit erziehen und in keiner Weise dazu befähigen, Verantwortung zu übernehmen – weder im Blick auf die begangene Straftat und einer möglichen Wiedergutmachung, noch im Blick auf ein zukünftiges Leben ohne Straftaten. Es bleibt das ungute Gefühl, dass es hier lediglich um Rache und Vergeltung geht, dass damit möglicherweise ein archaisches menschliches Bedürfnis befriedigt, aber keinverantwortungsvoller und zukunftsweisenderStrafvollzug durchgeführt wird.

Und das ist eben auch die Stärke dieses Buches: Es zwingt die LeserIn nicht nur zur Auseinandersetzung mit einem menschlichen Bedürfnis nach Rache und Vergeltung, sondern zur Reflexion über Schuld, Reue, Sinn von Strafe und damit über zielführende Formen von Strafen (21-37, 119-134, 154-179). Das Bedürfnis nach Rache liegt nach wie vor unserem Strafdenken zugrunde (24). Es ist „evolutionspsychologisch“ erklärbar, sozial erlernt, kulturell geprägt wie z.B. die Blutrache (25ff). Und diese hat mehr mit uns und unserem Bedürfnis nach Strafe zu tun als man auf den ersten Blick meinen möchte. Zwar ist das individuelle Ausleben von Rachegelüsten in unserer Gesellschaft nicht mehr rechtmäßig, aber das emotionale Gefühl der Rache in uns selbst ist damit längst nicht verschwunden. Im Individuum lebt das Bedürfnis nach ihr fort. Nicht zuletzt ist Rache das Motiv vieler Straftaten. Rache am konkreten Opfer oder Rache an der Gesellschaft im Allgemeinen. (29) So spiegele die Strafzumessung auch stärker die „Schwere der Schuld“ als die Frage nach der Ermöglichung eines späteren Lebens in Straffreiheit. (34ff) – Und die nach einer sinnvollen Wiedergutmachung schon gar nicht.

Niemand ist ohne Schuld – Christlicher Hintergrund

Gerade für GefängnisseelsorgerInnen ist es anregend,Gallis Überlegungen zu folgen und den eigenen Umgang mit Strafgefangenen und deren Schuld zu reflektieren. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Schuld und Vergebung zentrale Inhalte der christlichen Botschaft sind (siehe „Vater unser“) und keinen unwesentlichen Einfluss auf das abendländische Strafrechtsdenken hatten. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein eigenes kurzes Kapitel „Der christliche Hintergrund: Niemand ist ohne Schuld“ (175-179), nicht wegen der Captatio benevolentiae den Seelsorger/-innen (175), sondern wegen seiner Gedanken zu Jesu stellvertretendem Kreuzestod (175ff). Dass in diesem kurzen Abschnitt die ganze christliche Kreuzestheologie – zumal in ihrer Vielfalt – referiert und diskutiert werden kann, darf man von diesem Buch kaum erwarten. Trotzdem interessant, dass sie überhaupt in Gallis Überlegungen mit einbezogen wurde.

„Die Vergeltung von Schuld besteht in unserem jetzigen System vor allem darin, die Bestraften aus der Gesellschaft auszuschließen. Wie aber soll soziale Verantwortung in einem Umfeld erlernt werden, das mit der Realität, in die die Inhaftierten irgendwann fast alle wieder entlassen werden, nichts zu tun hat? Wie soll man das Schwimmen auf dem Trockenen lernen?“ (62) Und so beschreibt Galli das Gefängnis als „isolierte und lebensferne Institution“ (62ff), beklagt die „Entmündigung der Insassen (63ff), kritisiert die „psychische Schädigung der Gefangenen (65ff), entlarvt sie als „Hochschulen des Verbrechens“ (71ff) mit einem Alltag voller Gewalt“ (75ff), durchtränkt von einem „Drogensumpf“ (80f) und einer ungeheuren „Ressourcenverschwendung“ (81ff). Statt in die Resozialisierung der Inhaftierten zu investieren und Formen der Wiedergutmachung zu suchen, die den Opfern materiell und psychisch eine echte Hilfe sein könnten, und die die Sicherheit nach der Haft im Blick haben, werden viel zu viele Mittel für dieSicherung, Kontrolle, Disziplinierung und nicht zuletzt Verwaltung(81) ausgegeben, um nicht zu sagen: in den Sand gesetzt. Gallis nüchterne Bilanz: „Das Gefängnis nützt niemandem“ (180).

Bei dieser fundamentalen Kritik am und Infragestellung des Strafvollzuges bleibt er indes nicht stehen und weist Wege „zur Strafe der Zukunft(siehe oben) auf, zu denen er nach grundsätzlichen Überlegungen (181-201) anmerkt: Alle Alternativen zum Status quo werden Geld kosten, bis zu ihrer Etablierung vielleicht sogar etwas mehr als der derzeitige Strafvollzug. Mittel- und langfristig lassen sich aber bisher aufgewendete Ressourcen deutlich einsparen: durch eine Konzentration strafender Interventionen auf schwere Kriminalität, durch eine Reduzierung sozialer Folgekosten infolge der höheren Resozialisierungschancen alternativer Maßnahmen und indem wir den Schwerpunkt auf präventive Interventionen legen.“ (181)

Dabei ist Galli sich sicher, „dass es keine Patentlösung im Umgang mit Kriminalität gibt. Kriminalität wird es immer, absolute Sicherheit dagegen nie geben. (211) Möglicherweise entscheidender ist die Frage nach dem künftigen Entscheidungen zugrunde liegenden Menschenbild. Der Mensch ist nicht grundsätzlich schlecht, er ist vielmehr grundsätzlich gut. Daher sollte es uns allen darum gehen, die in jedem Menschen vorhandenen positiven Ressourcen, wie zum Beispiel die Fähigkeit zum Mitgefühl, zu stärken, wenn man schädigendes Verhalten reduzieren will.“ (212) Konsequent fordert er (nicht nur deshalb) eine Verlagerung der Schwerpunkteauf „Prävention“ hin, „hinsichtlich strafender Interventionen ausschließlich auf schwerere Kriminalität“, „zukunftsorientiert“, auf „Wiedergutmachung“ ausgerichtet und vor allem auch opferorientiert. (213)

Grundsätzliche Forderungen

Seine Vorschläge ergänzt Galli mit grundsätzlichen Forderungen: „Der Strafvollzug muss transparenter werden“, d.h. die Öffentlichkeit muss wissen, wie es tatsächlich im Strafvollzug aussieht (213-219). „Der Strafvollzug muss kreativ werden“ und über das bloße Wegsperren hinausdenken. Hier kann Galli auf konkrete Ansätze hinweisen (220-221). Dann schlägt er die „Trennung von Urteil und strafenden Interventionen“ vor (240f), wonach sich das Urteil nicht allein nach der Schwere der Tat richtet. Diese auszudrücken gäbe es andere Möglichkeiten als eine „symbolische“ Zahl für die Jahre des Freiheitsentzuges – von Galli als schwierigster und gleichwohl wichtigster Schrittgenannt: Es ist nicht zwingend notwendig, dem Täter unsererseits Schmerz zuzufügen, um unserer ernsthaften Empörung, unserer Missbilligung (…) Ausdruck zu verleihen. Die Ernsthaftigkeit unseres Anliegens erfordert (…) mehr als nur einen rein symbolischen Schuldspruch. Sie kann auch durch Solidarität mit dem Opfer und durch ein System klügerer, individuellerer und differenzierterer Reaktionen als die doch recht schlichte Freiheitsstrafe zum Ausdruck gebracht werden.

Vergleichbar zum jetzigen System (Strafrahmen) empfiehlt Galli eine Einteilung in „Kategorien von Unrecht (242), beispielsweise A für einen „Sexualmord an einem Kind“ bis J für den „Diebstahl eines Fahrrads. Hierbei werden auch die „Umstände“ einer Tat mit herangezogen und es gäbe „Mindeststrafe(n)“ und „Höchststrafe(n)“. Hinzu kämen „mögliche Auflagen und Weisungen“ wie „die Leistung von Wiedergutmachungoder gemeinnütziger Arbeit“ u.a. (242). Die „Schadenswiedergutmachung [sollte] an erster Stelle“ stehen (245-248). Galli schlägt sogar vor, dass nichtdas Gericht allein über die konkret aufzuerlegenden Maßnahmen entscheidet, sondern ein Gremium aus Fachleuten des öffentlichen Dienstes, wie zum Beispiel Sozialarbeiter, Pädagogen, Kriminologen usw. In diesem wären aber auch das oder die Opfer vertreten. Bei Tötungsdelikten könnten die Angehörigen ihre Mitwirkung am Gremium beantragen.(243)

DIE ZEIT 14. Mai 2020

Schließlich verweist Galli auf „die heilende Kraft der Wahrheit(248-251). (Hier fühlt man sich fast an Mahatma Gandhis Begriff „Satyagraha“ erinnert). Denn „für eine Wiedergutmachung [und die sollte ja an erster Stelle stehen] ist es nicht unerheblich, dass der Täter die Wahrheit offenbart und sich zu seiner Tat bekennt.“ (248) Aber gerade dazu motiviere das derzeitige System eher nicht, da trotz mildernder Umstände und Geständnisse das Urteil zu sehr auf die Tat fixiert ist (siehe oben) und daher Lügen strafmildernder sein könnten als die Wahrheit (ein Geständnis), die wiederum sowohl für TäterInnen als auch für Opfer heilend, wiedergutmachend und schließlich resozialisierend wirken kann. Dies alles könnte ein „Gesetz zur Heilung der Schäden aus und zur Vermeidung künftiger Straftaten“ regeln (253).

Galli weiß um „die schwersten Fälle (262-270) und damit um die Grenzen seiner Alternativen. Über die kann und muss man sicher kritisch diskutieren. Ebenso muss man aber auch über Gefängnisse kritisch diskutieren, die kurzfristig bis zur Entlassung Sicherheit bieten mögen. Langfristig aber versagen sie, weil sie mehr letztlich mehr Unsicherheit produzieren und in ihrem Auftrag zu resozialisieren nahezu völlig versagen. Galli liefert genügend Gesprächs- wenn nicht gar Zündstoff. Es lohnt sich nicht nur, das Buch zu lesen: Es ist spannend zu lesen. Nicht zuletzt wegen der konkreten Geschichten von Inhaftierten, die mehr sind als Illustrationen des Buches. Sie vermögen auf ihre Weise nochmals wachzurütteln und Betroffenheit zu erzeugen. Insgesamt also ein rundum empfehlenswertes Buch, dem man einen großen LeserInnenkreis wünschen kanngerade auch unter SeelsorgerInnen.

Dr. Simeon Reininger | JVA Meppen

 

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