Andreas Altehenger, Gefängnisseelsorger in der JVA lserlohn, geht es im Moment gut. Aus mehreren Gründen. Erstens nehmen die Kriminalität im Allgemeinen und die Jugendkriminalität im Besonderen stetig ab. Auch wenn Boulevardblätter und Rechtspopulistenein gegenteiliges Bild zeichnen: In Deutschland werden immer weniger Menschen straffällig. Das ist einfach ein Fakt.
Der nächste Grund: Seine Arbeit kommt an. Am Wochenende besuchten von den 120 in lserlohn einsitzenden weiblichen Strafgefangenen gut 30 den Gottesdienst. “Okay”, mildert Andreas Altehenger ab, „im Gefängnis gibt es wenig Abwechslung, da hat der Gottesdienst eine andere Attraktivität. Trotzdem ist der Zulauf schön.” Besonders gut drauf ist Diplom-Theologe Altehenger allerdings, weil ihn das Großthema dieses Buches, “Synodalität in der christlichen Sozialarbeit”, auf neue Gedanken bringt: “DerGrundgedanke von Synodalität ist die zuhörende Kirche. Der Grundgedanke der Gefängnisseelsorge ist die zuhörende Seelsorge.” Vielleicht, so Andreas Altehenger weiter, kann die Kirche als große lnstitution auf dem Weg in die Synodalität Erkenntnisse aus diesem Teilbereich mitnehmen.
Ein gewaltiges Scheitern
Vorbehaltloses Zuhören auf Augenhöhe ist ein Grundpfeiler der Gefängnisseelsorge. Obwohl Andreas Altehenger weder die Haftzeit der Gefangenen verkürzen noch ihre Haftbedingungen erleichtern kann, ist es gerade sein ohnmächtiges Zuhören, das den Menschen hilft. Zur Haltung der Gefängnisseelsorge gehört es im Weiteren, den Menschen nicht auf die Tat zu reduzieren. “Die Tat, das Verbrechen, steht ohnehin immer im Hintergrund”, sagt Andreas Altehenger. “Das ist eine Konstante.” Eine weitere Konstante ist das Scheitern. So individuell die Biografien der Menschen sind, mit denen Andreas Altehenger in zweieinhalb Jahrzehnten Seelsorge hinter Gittern zu tun hatte: Jeder einzelne Lebenslauf ist am Ende das Zeugnis eines großen Scheiterns. Bei vielen Strafgefangenen hat dieses lange vor der Tat, die sie letztlich ins Gefängnis brachte, begonnen – ablesbar an zerrütteten Familienverhältnissen, an Sucht, an der Erfahrung von Gewalt und Missbrauch. Grundlage für eine erfolgreiche Resozialisierung ist daher nicht nur die Einsicht in die Tat, sondern auch die Einsicht in das Gescheitert-Sein. “Diese Erkenntnis ist mit Scham und Schmerz verbunden”, weiß Andreas Altehenger. “Aber wer nach Verbüßung der Strafe auch innerlich wieder frei sein will, muss durch diese Erkenntnis hindurch.”
Missbrauch als Scheitern der Kirche
Hier sieht Andreas Altehenger deutliche Parallelen im Zusammenhang mit dem sexualisierten Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche: “Hier ist die Kirche gescheitert. Wie von den resozialisierungswilligen Strafgefangenen erwarte ich von meiner katholischen Kirche Einsicht in die Tat, Einsicht ins Scheitern, in Scham und Schmerz.” Die bisherige Aufarbeitung sei unzureichend und für Andreas Altehenger eine vertane Chance: “Durch einen offeneren Umgang mit dem Missbrauch könnte die Kirche viel an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen”, meint der erfahrene Gefängnisseelsorger.
Quelle: wirzeit. 2/2023 Erzbistum Paderborn