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Vielleicht wenn ich dann doch nicht zuschlage

9. Januar 2022

Neulich im Weihnachtsgottesdienst. In die Anstaltskirche rücken etwa 60 Jugendliche ein. Die gestellten Stühle werden schnell verrückt. Man will bei den „richtigen“ Leuten sitzen. Hier drückt sich die Knasthierarchie aus. Jugendliche klatschen sich zur Begrüßung ab. Die  Inhaftierten tragen Mund- Nasenschutz, da vor kurzem ein Corona Fall in der Anstalt auftrat. Eine ungewohnte Runde mit dieser Maskierung.

Die Gefängnisseelsorger stimmen das erste Lied an. „Macht hoch die Tür, die Tor macht, weit es kommt der Herr der Herrlichkeit“ an. Unruhiges Rascheln im Kreis. Sie alle sind hinter verschlossenen Türen. Da geht keine Tür auf. Welcher Herr? Diese Frage steht manchem der jungen Menschen ins Gesicht geschrieben. Sie sind Muslime, Bekenntnisfreie und Freigeister. Kaum einer war je in einem Weihnachtsgottesdienst. Die Liedblätter werden ungläubig in der Hand gehalten. Der eine faltet sie, der andere zerknüllt einzelne Blätter und wieder ein anderer probiert sich in Origamifalten. Erst als die Weihnachtsgeschichte von zwei Mitgefangenen vorgelesen wird, ist es still.

Das Kind eines Inhaftierten beim Familientag in der Kirche. Kinder verändern…

Da ist die Rede davon, dass Josef nicht der leibliche Vater ist. Er und seine Frau sind auf der Flucht. Das kennen viele der Anwesenden. Manche sind aus ihrem Land geflüchtet. Den eigenen Vater kennen einige ebenso nicht. Buchstäblich im Dreck kommt Gott „herunter“, wird neu geboren. Das wünschen sich die Jugendlichen. Noch einmal zurück auf Null. Neu anfangen können. Doch da sind viele Hürden zu überwinden. Der eine Mitgefangene, dessen Nase mir nicht gefällt, die Richterin, die keiner vorzeitigen Entlassung zustimmt. In diese Welt hinein wird „Gott“ geboren im Kind Jesus von Nazareth. Wenn  das stimmt, dann muss Gott doch auch im Knast zur Welt kommen?

Hinten wird geredet, worüber, das ist nicht hörbar. Vielleicht meint einer, der hat gut reden, das eigene Leben sieht anders aus. Und doch finden sich die Jugendlichen in der Weihnachtsgeschichte wieder. Die Hirten kamen wie sie waren, in Dreck und Speck. Keine Krawatte und kein weißes Hemd. So sind sie willkommen. Draußen in einem Stall können Türen nicht verschlossen werden. Eine Veränderung kommt nicht auf Knopfdruck und alles ist anders. Das Kind muss alles erst lernen. Gott will wissen, wie es ist, Mensch zu sein. Die Realität im Jugendvollzug ist geprägt durch das gegenseitige Hochschaukeln. „Man muss zuschlagen, weil man sonst vor den anderen abgestempelt wird“, meint ein Jugendlicher im Zwischenruf bei der Predigt. Gibt es Sternstunden im Leben. Wenn ja welche? Vielleicht wenn ich dann doch nicht zuschlage?

Am Ende verabschiedet sich im Gottesdienst der Anstaltsleiter. „Mit Ihnen will ich nichts mehr zu tun haben“, schallt es aus der Menge. Das müssen die Inhaftierten auch nicht mehr. Der Leiter der JVA geht in den Ruhestand. Eine Erleichterung ist nicht zu spüren. Die Leitung übernimmt jemand anderes. Der weitere Weg jedes Einzelnen wird unterschiedlich sein. Das hängt von ihm selbst ab sowie von seiner Entscheidung, die er trifft. Am Ende des Gottesdienstes bleibt ein Origami des Liedzettels auf dem Stuhl zurück. Es ist eine Pistole. Die Wirklichkeit bleibt und doch gehen die Jugendlichen am Ende mit einer Kerze anders in ihren Haftraum zurück.

Michael King | JVA Herford

 

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