Die Jugendstrafvollzugsgesetze der jeweiligen Länder nennen als Ziel des Vollzuges: „Durch den Vollzug der Jugendstrafe sollen die Gefangenen befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Erziehungsziel)”. Die „lästige Zugewandtheit“ (Zitat eines Anstaltsleiters) der mitarbeitenden Dienste (Sozialarbeiter, Beamte, Psychologen, Therapeuten, ehrenamtlichen Gesprächspartner und Pädagogen) fordert den jungen Mann heraus, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Befürchtungen eines Gefangenen
Werde ich eine Arbeit und eine Wohnung finden?
Wie begegnen mir die Menschen, wenn sie erfahren, dass ich im Knast war?
Von meinen alten Kumpels will ich mich trennen (die haben mit Drogen zu tun), aber wo soll ich hin?
Ich habe Angst alleine zu sein!
Schaffe ich das alles, wenn ich draußen bin?
Die Erfahrung des Auf-Sich-Selbst-Zurückgeworfen-Seins in der Reizarmut der eigenen Zelle kann, neben den Nebenwirkungen des Knastes, Entwicklungsprozesse in Gang bringen, die dem Gefangenen helfen sollen, sein Leben zu bedenken. Aus den Biographien der Inhaftierten wird meist schnell deutlich, dass sie als Kinder und Jugendliche eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen hinnehmen mussten. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, bruchstückhafte oder gar keine Schul- oder Ausbildung haben sie gelehrt, diese Mängel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren.
Seelsorgerische Gespräche mit jungen Inhaftierten
Im Seelsorgegespräch, das von absoluter Verschwiegenheit geprägt ist, wagt der junge Mann sich zu öffnen und von sich und seinem bisherigen Leben zu berichten. Erfahrungen zeigen, dass es in vielen Fällen an guten, grenzsetzenden und zugleich liebevoll haltenden Vätern gefehlt hat. Kaum einer kann sagen, wann er zum letzten Mal von seinem Vater in den Arm genommen wurde und das Gefühl vermittelt bekam, geliebt zu sein. Das zugewandte Hinhören und das Ernstnehmen des oft schon früh durcheinander geratenen Lebens des jungen Gefangenen ist Aufgabe der Seelsorge. Im Reden über sich und sein Leben offenbart der Jugendliche gleichzeitig die Suche und die Sehnsucht nach gelingendem und glückendem Leben in unserer Gesellschaft. Und gleichzeitig darf er hören, dass Gott schon immer auf dem Weg zu ihm ist, ihn sucht und ruft – auch mit seiner Vergangenheit und vielleicht sogar gerade deswegen. Naht die Entlassung eines jungen Gefangenen, steht oft die Angst vor der Zukunft im Mittelpunkt der Gespräche. Seelsorge gilt im umfassenden Sinne dem ganzen Menschen, in all seinen Dimensionen, in der vollen Wahrheit seiner Existenz, dessen, was er als Person ist. Deshalb endet die Gefängnisseelsorge auch nicht beim Einzelgespräch im Knast. Vielfach entwickelt sich eine intensive Begleitungssituation zu dem Gefangenen, die auch über die Haftzeit hinausreicht.
Peter* hat traumatische Erfahrungen gemacht
Ich erinnere mich gut an einen Inhaftierten, der längst entlassen ist. Peter, den ich 16-jährig kennenlerne und der wegen des Migrationshintergrundes bisher nur wenig deutsch spricht. Seine Straffälligkeit resultiert u.a. aus dem Aufbegehren gegen den eigenen Vater, der ihn ganz traditionell und streng erziehen will, was Peter aber in einen kulturellen Konflikt bringt mit dem Land, in dem er jetzt lebt. Er nimmt Drogen, gerät in die Beschaffungskriminalität und wird schließlich verurteilt. Inhaftiert erwartet er unwissend in der Zelle die tägliche Bestrafung mit Schlägen durch die Justizbeamten – wie in seinem Heimatland üblich. Als die Schläge ausbleiben und er sich langsam an das System Jugendvollzug gewöhnt, gewinnt er Vertrauen zu den Bediensteten und öffnet sich. Er lernt fleißig Deutsch und – obwohl muslimisch – sucht das Gespräch mit mir, dem Seelsorger. In den Gesprächen wird deutlich, dass Peter viel Grausames und Schlimmes in seinem Heimatland erlebt hat und er hochgradig traumatisiert ist. Aus der wöchentlichen Begleitsituation mit mir entwickelt sich eine immer vertrautere Beziehung, die den jungen Mann zu festigen und zu stabilisieren scheint. Als der Zeitpunkt der Entlassung naht, bittet mich Peter, sich auch „draußen“ mit mir treffen zu können. Wir sehen uns dann eher unregelmäßig mal auf einen Kaffee, mal in seiner Familie.
Und Peter berichtet mir von den bedrückenden und engen Lebensmöglichkeiten in der Familie. Es dauert nicht lange und Peter fliegt daheim raus – mit 17 Jahren. Er schläft in Obdachlosen-Unterkünften und unter der Brücke. Zu den vereinbarten Treffen kommt er nicht mehr, weil er sich schämt. Er nimmt wieder Drogen, um mit der Situation halbwegs klarzukommen, wird wieder straffällig und landet erneut bei uns. Mittlerweile ist er von Abschiebung bedroht. Die Eltern versuchen auf ihre Art, den jungen Mann zu erziehen, indem sie ihn in seinem Heimatland mit einem Mädchen auf traditionelle Weise verheiraten, während Peter bei uns in Haft ist. Peter kennt die Frau nicht einmal und rast vor Wut.
Die Hochzeit hat zur Folge, dass Peter nach traditionellem Verständnisfür seine Frau jetzt unterhaltspflichtig wird und aus seinem Heimatland – in dem der Krieg tobt – finanzielle Forderungen der Familie erhält zur Unterhaltung seiner Frau. Die kann er natürlich nicht aufbringen. Darüber redet er aber mit niemandem – nur mit mir. Die zweite Inhaftierung endet für Peter vorzeitig, da ihm gerichtlich eine stationäre Drogentherapie verordnet wird. Nach zwei Monaten fliegt er dort raus, weil er immer wieder Kontakt zu seiner deutschen Freundin sucht, die einzige, die ihm im ganzen Wirrwarr mit der Familie immer Halt gegeben hat. Mit Abbruch der Drogentherapie landet Peter zum 3. Mal bei uns, da er die Reststrafe absitzen muss, die ihm aufgrund der Therapie zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit der Endstrafe wird Führungsaufsicht angeordnet. Peter soll seine Schulausbildung zu Ende bringen und eine Lehre beginnen. Wohnen soll er wieder daheim. Niemand weiß von den schwierigen Verhältnissen daheim. In der Familie werden die gerichtlichen Anordnungen zum Schulbesuch aber nicht eingesehen und Peter wird von seinen Eltern genötigt, endlich arbeiten zu gehen um Geld nach Hause zu bringen. Außerdem muss noch seine Frau in ihrem Heimatland unterhalten werden!
Felix* und seine kleine Familie
Felix ist ein junger Gefangener, dessen Freundin draußen schwanger ist. Nach vielen Seelsorgegesprächenkommt auch der Kontakt zur Freundin zustande. Schnell stellt sich heraus, dass sie in einer prekären Mietsituation wohnt. Die Vermieterin kümmert sich nicht um die kaputte Heizung, die verstopften Abflussrohre und die nicht vorhandenen Wasseranschlüsse in der Küche. Eigentlich wollte Felix das alles machen, aber die Inhaftierung kam dazwischen. Als Felix vollzugsöffnende Maßnahmen hat, kann ich mit ihm zusammen seine Familie und die seiner Freundin besuchen. Schnell werden die kargen und hilflosen Familienverhältnisse deutlich und mit der Freundin vereinbare ich einen Termin, um mit ihr eine Rechtsberatung bzgl. der Mietmängel zu bekommen. Mit kirchlicher Unterstützung haben wir eine Wohnsituation schaffen können, in der Felix nach der Inhaftierung mit seiner Freundin und demmittlerweile geborenen Sohn einen neuen Anfang machen kann. Felix hat mich zu seiner standesamtlichen Trauung eingeladen und hat jetzt, nach der Haftentlassung eine Lehre angefangen. Auch bei ihm haben sich die Verhältnisse stabilisiert und ich bin sicher, dass er seinen Weg in eine bessere Zukunft gestalten wird.
Paul* bekommt mühevoll eine Wohnung
Paul hat sich schon kurz nach seiner Inhaftierung an mich gewandt. In den regelmäßigen Gesprächen mit mir hat er sich intensiv mit sich und seinen Straftaten auseinandergesetzt. Kurz vor seiner Endstrafe wird er auf Bewährung entlassen. Seine Sozialarbeiterin hat in Verbindung mit dem Arbeitsamt eine Anschlusslehrstelle für Paul gefunden, so dass er draußen seine in Haft begonnene Maurerlehre fortsetzen kann. Bis kurz vor der Entlassung ist aber die Wohnsituation nicht geklärt. Kann Paul aber keinen festen Wohnsitz vorweisen, wird aus der vorzeitigen Entlassung nichts. Der Anschluss-Lehrvertrag ist in Gefahr und so mache ich von der Seelsorge einen Aufruf in den kirchlichen Gemeinden der Umgebung auf der Suche nach einem bezahlbaren Ein-Zimmer-Appartement für Paul. Eigentlich war die Wohnsituation geklärt. Aber als der Vermieter hörte, dass Paul im Knast war, zog er das Mietangebot zurück. Paul hat es geschafft. In buchstäblich letzter Sekunde hat sich ein Angebot aufgetan und Paul konnte entlassen werden. Nach seiner Entlassung habe ich ihn besucht und wir haben zusammen sein Zimmer eingerichtet. Wir stehen weiterhin telefonisch in Kontakt.
Andreas* möchte sich mit „seinem“ Opfer treffen
Andreas ist noch nicht entlassen und sitzt noch ein. Mit ihm bin ich wöchentlich im Gespräch und immer wieder dreht es sich auch um die Frage nach der schweren Schuld, die er auf sich geladen hat. In nächtlichen Träumen holt ihn seine Tat immer wieder ein und lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Da helfen zunächst auch die Gespräche nicht viel weiter. Dann bittet Andreas mich, im Rahmen der seelsorgerlichen Verschwiegenheit einen Sonderbesuch zu organisieren. Er bittet mich, mit dem Opfer seiner Straftat Kontakt aufzunehmen. Er möchte sich mit dem Opfer treffen und – soweit das überhaupt möglich ist – um Vergebung bitten. Mithilfe der Seelsorge kommt der Sonderbesuch zustande und es findet ein ungewöhnlich intensives Gespräch statt. Beide, Opfer und Täter stehen sich gegenüber und berichten einander davon, was die Straftat mit ihnen gemacht hat. Es kommt zu einer guten und versöhnlichen Begegnung zwischen beiden. Mit beiden, Opfer und Täter bin ich weiterhin im Gespräch. Auch wenn mir „draußen“ immer wieder mal Unverständnis für die Arbeit mit den Tätern im Knast begegnet, so ist dies doch vorrangig meine Aufgabe als Gefängnisseelsorger.
Kirche wendet sich an anderer Stelle auch ausdrücklich den Opfern von Gewalt und Ungerechtigkeit zu. Es geht der Seelsorge vorrangig darum, Liebe erfahrbar zu machen, so wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn einem Menschen jene Liebe begegnet, die allem Eingeständnis von Schuld zuvorkommt. Seelsorge hat im Kern damit zu tun, Menschen zu ermutigen und – nicht selten erstmals – zu befähigen, sich als Subjekte bewusst zu werden. Aber, die Gefängnisseelsorge hat nicht nur die Gefangenen im Blick! Auch die Mitarbeiter im Justizvollzug gehören zum Arbeitsfeld Gefängnisseelsorge. Hier sind es oft die Tür- und Angelgespräche, die auch manche seelische Not von Mitarbeitern offenbaren. Auch wenn die Relevanz von Kirche in der Gesellschaft abzunehmen scheint, so glaube doch ganz fest daran, dass Seelsorge im oben beschriebenen Sinne mehr denn je gebraucht wird.
Johannes Geldermann
* Namen geändert