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Unkraut? Nein, frei aus dem Herzen Nöte aussprechen

17. Januar 2021

Vor vierzig Jahren, 1978, kam mein erstes Kind auf dem baden-württembergischen Hohenasperg, dem schwäbischen Tränenberg im Justizvollzugskrankenhaus zur Welt. Es wurde aus der Not geboren. Im Gottesdienst merkte ich, dass die kirchliche Gebetssprache für „Knackis“ eine Fremdsprache war. Gnade, Erbarmen, Vergebung sind Fremdwörter in einem Haus, in dem Vergeltung abgegolten, abgesessen wird. Und so habe ich angefangen, im Gottesdienst frei aus dem Herzen zu reden, Sorgen und Nöte der Insassen ehrlich vor Gott auszusprechen.

Inhaftierte leiden auch unter sexueller Not. Selbstbefriedigung ist für Inhaftierte oft die einzige Notlösung. Doch das ging dem katholischen Herder-Verlag zu weit. Und so wurde ich gebeten, das Wort Selbstbefriedigung in meinem Buch „Hinter Gittern beten“ wegzulassen, weil sonst der Bischof das Imprimatur, die kirchliche Druckerlaubnis verweigern könnte. Ich schäme mich heute noch, dass ich es getan habe. Obwohl ich nun schon seit mehr als 25 Jahren aus dem Gefängnis „entlassen“ wurde, finden sich immer noch viel Inhaftierte in meinen Knast-Texten wieder. Manche glauben, dass ich selbst gesessen bin, sonst hätte ich ihre Situation nicht so treffend beschreiben können. Ein schönes Kompliment.

Wer einsitzt, wird ausgeschlossen aus der geschlossenen Gesellschaft. Eingeschlossen-Ausgeschlossen. Was hinter der Mauer geschieht, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Und wenn etwas nach außen dringt, ist es ein Skandal: „Gefangener verhungert in Einzelhaft.“ – „Insasse wird von seinen Zellenkollegen vergewaltigt.“ – „Wärter prügeln Gefangenen tot.“

Botschaft auf Mauer der Ablehnung

Im Gottesdienst stand ich jedes Mal auf wackeligen Beinen vor den Gefangenen. Ich habe oft gespürt, dass meine Botschaft auf eine Mauer stößt, auf die Mauer der Ablehnung. Ich wusste, was viele denken: „Der da vorne hat gut reden. Der hat ja alles, was uns fehlt.“ Manche Insassen müssen lachen, wenn sie hören: „Selig ihr Armen“. Wie viele sitzen hinter Gittern, weil sie mittellos sind. Hätten sie das Geld für einen vernünftigen Anwalt, wären sie gar nicht erst eingefahren. Ohne festen Wohnsitz wird man schnell inhaftiert: Fluchtgefahr! Selig, ihr Armen!? Bei einer Schlägerei auch noch die andere Wange hinzuhalten, soll wohl ein Witz sein. Murren, Brummen, Rumoren, Zwischenrufe. Zwischenfälle. Da kannst du keine Predigt vom Blatt ablesen. Die „Knackis“ nehmen dir dein schönes Konzept aus dem Mund. In der Knastkirche trifft sich Gott und die Welt. Da wird gehandelt, gedealt, getauscht. Briefmarken gegen Tabak, drei „Koffer“ gegen eine „Bombe“ Kaffee. Vier „Bomben“ für eine goldene Uhr. 200 Euro für ein Handy.

Da reißt einer die Seiten aus dem Gesangbuch, feines Zigarettenpapier. Da geht einer raus, weil ihm schlecht wird bei der Predigt. Da ruft einer „Prost“, wenn der Pfarrer den Kelch hochhebt. Da bekommt einer den ‚Leib Christi’ in die Hand, die 17 Mal zugestochen hat. Da ringt einer mit sich, ob er sich diesmal zum Abendmahl traut. Da fragt einer, dem du das „Brot des Lebens“ gibst: Haben Sie kein Päckchen Tabak? Da steckt einer seinem Kollegen vom anderen Stock ein Pornoheft zu. Da betet einer: „Herr, ich danke dir, dass ich nicht so ein Schwein bin, wie die Drecksau hinter mir.“ Da bleibt nur noch ein Gebet: Herr, erbarme dich!

Erbärmlich die Loblieder

Erbärmlich falsch klingen im Knast die Loblieder auf den Großen Gott. „Der uns von Kindesbeinen an unzählig viel zu gut bis hierher hat getan.“ Wie viele Insassen wurden schon als Baby hin und her gestoßen, verstoßen. Nicht wenige Inhaftierte sind Heimkinder! Einige kamen sogar im Frauengefängnis „Gotteszell“ zur Welt. Ich denke an Reinhardt. „Das Klauen hat uns unsere Mutter beigebracht. Mit elf war ich schon siebzehn und hatte meine eigene Zigarettenschachtel in der Tasche. Mit zwölf hatte ich die erste Alkoholvergiftung. Mit dreizehn der erste gemeinsame Raub. Mit fünfzehn saß ich bereits im Knast. Mit siebzehn lag ich mit meinem Alten zusammen im Gefängniskrankenhaus. Im Knast bin ich groß geworden. Mit neununddreißig hatte ich schon fast dreiundzwanzig Jahre auf dem Buckel.“ Und als Reinhardt wieder in Stammheim einfahren sollte, setzte er sich ab nach Spanien und starb unterwegs auf der Straße. Seine Mutter tröstet sich damit, dass ihr Junge wenigstens nicht im Knast gestorben sei. Mein erstes Kind wurde ebenfalls im Knast geboren und war in vierzig Jahren auch kaum in Freiheit. Aber es lebt noch, wenn auch hinter Gittern.

Petrus Ceelen

 

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