Eine neue Kurzfilmreihe ist gestartet, die Wissenschaft in einem lockeren Erklärformat präsentiert: Theologie am Andersort. Theologie am Andersort – das meint eine explorative Theologie, die ihren Ort am Schreibtisch, in Hörsaal und Seminarraum verlässt und sich auf den Weg macht: hinaus auf die Straße, hinein ins ‚wirkliche’ Leben. Und das heißt dann heute auch: hinein ins Internet, theologische Präsenz z.B. auch auf Youtube. Die geplante Filmreihe möchte genau dort ein Gespräch eröffnen – denn: Theologie ist keine Einbahnstaße. Christian Bauer berichtet über sein theologisches Outdoor-Projekt.
Das erste Video dieser Reihe ging am 8. Dezember 2019 online – ein bewusst gewähltes Datum, denn an diesem Tag (Maria Empfängnis) wurde vor über 50 Jahren das Zweite Vatikanische Konzil abgeschlossen. Damit endete nicht nur etwas – es begann in programmatischer Weise auch ein neuer Weg von Theologie und Kirche.
[Das Konzil war] […] eine Aktualisierung, eine Relektüre des Evangeliums aus der Perspektive der gegenwärtigen Kultur […]. Es hat eine irreversible, vom Evangelium ausgehende Erneuerungsbewegung hervorgebracht. Und jetzt muss man vorangehen.
Papst Franziskus
Unsicheres Terrain
Der Youtube-Kanal Theologie am Andersort zielt auf eine Theologie, die experimentell vorangeht und sich dabei auch auf vermeintlich fremdes, vielleicht sogar unsicheres Terrain wagt. Dabei geht es nicht nur darum, jenseits der „Ekklesiosphäre“ (Émile Poulat) ansprechbar präsent zu sein, sondern die entdeckten Orte auch im Geiste Jesu zu transformieren: „Ich erwarte mir […] nicht, dass ihr Utopien am Leben erhaltet, sondern dass ihr ‚andere Orte’ [altri luoghi] zu schaffen wisst, wo die Logik des Evangeliums gelebt wird […].“ (Papst Franziskus).
Im Zweiwochentakt erscheint immer sonntags ein neues Video, das jeweils an einem anderen Ort aufgenommen wurde – und meist ist dieser Ort selbst schon ein wichtiger Teil des thematisierten Inhalts: Fußballstadion und Szenebar, Tankstelle und Kirchenkrypta, Fitnessstudio und Markthalle, Sternwarte und Kreisverkehr, Straßencafé und Flussufer, Graffitomauer und Skisprungschanze.
Andersort – ein pastoraler Sehnsuchtsbegriff
Der Begriff der Andersorte¹ geht auf den französischen Meisterdenker Michel Foucault² zurück. Bei ihm heißen sie “Heterotopien” und sind irritierende, befremdliche (und daher auch faszinierende) Orte einer anderen Ordnung der Dinge: Orte wirklicher Möglichkeiten – im Gegensatz den Utopien, die auf mögliche Wirklichkeiten hinweisen. Man sollte aus diesen Andersorten keine neuen Utopien von Theologie und Kirche machen (so wie es z.B. in den 1980er Jahren manchenorts mit den lateinamerikanischen Basisgemeinden geschehen ist)
Andersorte sind immer auch eine Frage der Perspektive – und somit zumeist eine unbewusste kirchliche bzw. theologische Selbstaussage: Was erscheint von welchem Ort aus anders? Wenn Bahnhöfe, Fußballplätze, Arztpraxen, Nachtclubs und Tattoo-Studios – also Orte, von denen ganz normale Menschen sagen würden: Das sind ganz normale Orte – in Theologie und Kirche als pastorale ‚Andersorte’ bezeichnet werden, dann sagt das vor allem etwas darüber aus, wie sehr sich beide inzwischen vom Alltag vieler heutiger Menschen entfernt haben.
Andersorte – ein pastorales Sehnsuchtswort, das unbewusst die Botschaft mittransportiert: Wir wären so gerne ganz anders, wären so gerne dort, wo sich das wirkliche Leben abspielt. Dieser Begriff legt somit frei, wie sehr sich Theologie und Kirche aus der Welt von heute exkulturiert haben. Denn in Wahrheit ist es ja so, dass unsere Kirchengebäude, Pfarrzentren und Theologische Fakultäten für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen längst die wahren Andersorte sind – aus der Zeit gefallene “Aliens” in der sozialen Topographie unserer Gesellschaft.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Innsbruck | feinschwarz.net
¹ Bereits 2003 habe ich in einem Sammelband zur theologischen Rezeption von Michel Foucault erstmals von theologischen ‚Nicht-Orten‘ und pastoralen ‚Anders-Räumen’ gesprochen (vgl. Christian Bauer: Kritik der Pastoraltheologie. Nicht-Orte und Anders-Räume nach Michel de Certeau und Michel Foucault, in: Ders., Michael Hölzl [Hg.]: Gottes und des Menschen Tod? Die Theologie vor der Herausforderung Michel Foucaults, Mainz 2003, 181-216; siehe dazu auch Hans-Joachim Sander: Der ewige Gott hat Raum. Theologie im spatial turn, in: Theologische Revue 109 [2013], 91-110, 104). Systematischerseits steht vor allem der Salzburger Dogmatiker Hans-Joachim Sander für den Begriff der pastoralen Andersorte. Im Bildungssektor (vgl. Rainer Dvorak [Hg.]: AndersOrte. Entdeckungen einer Katholischen Akademie unterwegs, Würzburg 2015), in der Ordensspiritualität (vgl. Ilona Biendarra [Hg.]: Anders-Orte. Suche und Sehnsucht nach dem (Ganz-)Anderen, St. Ottilien 2010), in der Kategorialpastoral (vgl. die Zeitschrift „AndersOrt“ der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland) und an anderen pastoralen Orten hat dieser Begriff längst eine signifikante Konjunktur erlangt (vgl. Christian Bauer: Pastorale Andersorte? Eine kleine theologische Sprachkritik, in: Diakonia [2015], 136-141).
² Vgl. Michel Foucault: Des espaces autres, in Ders.: Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 1571-1581 bzw. Ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper: Zwei Radiovorträge, Berlin 2013