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Straffälligenhilfe: Das wenige, das Du tun kannst, ist viel

28. November 2023

Tobias Beleke vom Verein Bremische Straffälligenbetreuung und Dr. med. Tatjana Voß von der Forensisch-Therapeutischen Ambulanz der Charité Berlin im Gespräch.

Eine Premiere in Berlin. Zum ersten Mal tagt dort für zwei Tage die Bundesarbeitsgemeinschaft der Straffälligenhilfe (BAGS), einem Zusammenschluss aller in diesem Aufgabengebiet tätigen Organisationen. Darunter sind unter anderem die Katholische Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (KAGS) und die Deutsche Bewährungshilfe (DBH). Alexandra Weingart als Vorsitzende begrüßt 180 TeilnehmerInnen* aus dem Bundesgebiet zu einem Thema, das in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus rückt: „Übergangsmanagement und Nachsorge für Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen“.

Weingart zitiert in ihrer Begrüßung Albert Einstein mit dem Satz: „Das wenige, das Du tun kannst ist viel.“ Sie spielt dabei auf Vielzahl an Problematiken an, die straffällig gewordene Menschen betreffen und wie schwierig es ist, adäquate Hilfen zu finden, die greifen. Die meisten der Angereisten sind in der Sozialarbeit und damit im Übergangsmanagement der Freien Straffälligenhilfe tätig. Etwa ein Drittel zeigt sich zu Beginn durch das Aufstehen im Festsaal derStadtmission Berlin als Menschen, die im Justizvollzug arbeiten. Darunter ist Martina Twelenkamp von der JVA Herford. Sie ist als Leiterin des Sozialdienstes im Jugendvollzug für die Koordination und die Kontakte zu anderen Hilfeträgern „draußen“ zuständig. „Manche bringen eine psychische Erkrankung wie z.B. Borderline in den Vollzug mit, wieder andere entwickeln sie aufgrund ihres Drogenkonsums im Vollzug selbst“, erzählt sie.

Daten und Fakten liegen auf dem Tisch

Dies bestätigt Prof. Dr. Torsten Verrel, der per Video zugeschaltet ist. Verrel arbeitet an der Universität Bonn als Rechtswissenschaftler und ist Kriminologe. „86 % der straffällig gewordenen Menschen  sind Menschen mit psychischen Störungen oder Erkrankungen“, führt Verrel aus. Anhand verschiedenster unterschiedlicher Untersuchungen liegt es auf dem Tisch: „Die Konsequenzen aus Alkohol- und Drogenkonsum macht den größten Teil aus. Daneben treten bei 70 % Persönlichkeitsstörungen auf. Bei Frauen sind dies besonders Posttraumatische Störungen. Die Unterbringung in den Strafvollzug können psychische Erkrankungen massiv verstärken oder auch hervorrufen. Subkulturelle Einflüsse würden ihr übrigens tun. Verrel fordert als Konsequenz, die Screening Instrumente einheitlich zu gestalten, so dass die Daten vergleichbar sind. Die Durchlässigkeit des Maßnahmenvollzuges mit dem Strafvollzug soll verbessert werden. Ein Teilnehmer widerspricht: „Im Maßregelvollzug ist es auch nicht besser als im Strafvollzug. Die Strukturen sind ähnlich“, meint dieser.

Multiple Erkrankungen und Abhängigkeiten

Aus der praktischen Arbeit ist Michaela Schätz aus der Nachbarschaft des Berlinger Tagungsortes gekommen. Sie arbeitet als Psychologin in der JVA Berlin-Moabit. Sie erzählt aus der Geschichte: „Bereits 1979 gab es eine Forensische Abteilung im Zuchthaus Waldheim. Es ist heute eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, verschiedene Akteure von drinnen und draußen zusammen zu bringen, um Menschen, die nicht erreichbar sind, ein gutes Leben zu ermöglichen“, sagt Schätz. In einem Fallbeispiel erzählt sie von einem Mann, der immer wieder durch Delikte auffällt und im „Drehtürenvollzug“ landet. „Dieser ist aufgrund seiner multipler Abhängigkeiten und affektiven Störung nicht mit Worten erreichbar. Da wäre es gut, ein niederschwelliger Ort zu haben, an dem erleben kann und nicht straffällig wird“. Schätz spricht Wohneinrichtungen für solche Menschen an. Doch die Realität sieht anders aus. Nicht gefundene Kostenträger und das Straftatenregister verhindern eine Aufnahme in solch ein betreutes Wohnen.

Forensisch-Therapeutische Ambulanz

Dr. med. Tatjana Voß, die Leiterin der Forensisch-Therapeutischen Ambulanz der Charité Berlin, weiß Geschichten von Gewalt- und Sexualstraftäter zu erzählen. Im Rahmen der Führungsaufsichtsstelle ist sie nicht mehr an die ärztliche Schweigepflicht gebunden. „Das ist bitter, aber in diesem Fall nicht zu ändern“, sagt sie. Sie und ihr Team aus SozialarbeiterInnen und PsychologInnen kümmern sich ambulant um nach der Haft entlassene Menschen. „Das können Hausbesuche sein oder die konkrete medizinische Behandlung“, sagt Voß. Die erste Phase nach der Haftentlassung ist zentral für das Gelingen einer sozialen (Re-)Integration. Hier besteht ein erhöhtes Risiko für Suizid, Suchtmittelmissbrauch und selbst schädigendes Verhalten. Ziel sollte es daher sein, bereits im Strafvollzug entscheidende Kriterien zur psychischen und physischen Gesundheit zu leisten, um einen nahtlosen Übergang zur gesundheitlichen Versorgung außerhalb der Haft zu ermöglichen.

Krankheits- und gesundheitsfördernde Einflüsse

Darauf geht Prof. Dr. med. Stefan Orlob von der Universität Greifswald ein. „Die Prävalenz psychischer Erkrankungen übersteigt bei Gefangenen diejenige der Normalbevölkerung um ein Vielfaches. Es gibt deutliche Hinweise auf krankheitsfördernden Einfluss der Langzeitunterbringung“, sagt Orlop. Nichtsdestotrotz will er nicht pessimistisch seinen Vortrag beenden. Am Ende zeigt der Psychiater ein Foto des Greifswalder Hafens mit Segelschiffen, angelehnt an das Kunstgemälde von Caspar David Friedrich: Den eigenen Blick gilt es zu verändern und den Horizont nicht zu verlieren.

Michael King

 

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