parallax background

Theologe Karl Rahner 1961 zu „Christus in den Gefangenen“

12. März 2024

Zur 50. Fachtagung von „Kirche im Justizvollzug“ mit NeueinsteigerInnen im Tagungshaus in Wiesbaden-Naurod zitiert der Gefängnisseelsorger Michael Kullinat von der JVA Schwalmstadt einen großen Theologen des 20. Jahrhunderts: Karl Rahner. Hintergrund ist die Frage der Rolle des/der GefängnisseelsorgerIn im Vollzug. Im Grunde hat sich in all den Jahren an der Sichtweise des Jesuiten zur Gefängnisseelsorge wenig geändert. „Christus“ findet sich in jedem Menschen und somit in jedem Gefangenen, so Rahners damaliger Tenor einer Ansprache vor Strafanstalts-Geistlichen im Jahr 1961:

Wir finden Christus den Herrn in den Gefangenen; wir sollen ihn finden, er ist da wirklich so zu finden, dass wir ihm selbst für uns zu unserem Heil und unserer Seligkeit begegnen. Ich brauche Sie nicht an Ihre Erfahrung als Strafanstaltsseelsorger zu erinnern. Sie haben diese Erfahrung, die bittere, die grausig-realistische, selbst besser, als ich sie Ihnen schildern und nahe bringen könnte: die Erfahrung der gescheiterten menschlichen Existenzen, der geistig und moralisch Defekten, der Labilen, der Psychopathen, der Boshaften, der Hochstapler, der Zynischen, der Heuchler und Lügner, der bloß Triebhaften, der Opfer der Verhältnisse, der Süchtigen, der haltlos Rückfälligen, der religiös Unempfänglichen, der armen Teufel, der Imbezillen. Auch wenn diese Erfahrung nicht die einzige ist, die Sie in den Gefängnissen machen, auch wenn Sie auch da Menschen begegnen, die Sie von vornherein nicht anders empfinden als sonstige — normale und anständige — Menschen, so hat Sie doch schon oft ein Grausen über diese Menschheit gepackt, die Ihnen da begegnet; Sie waren schon oft die Betrogenen, die Dummen, die mit Undank Belohnten, diejenigen, die vergebens an verschlossene Herzen pochten, die Hilfe leisteten, um dafür als Vertreter verhasster Institutionen selbst abgelehnt zu werden; Sie haben Vergeblichkeit erlitten und die Hoffnungslosigkeit solcher Bemühungen; Sie werden oft den Eindruck gehabt haben, dass all Ihre Mühe, Sorge und Liebe, Geduld und Arbeit in einen leeren Abgrund fällt, aus dem keine Antwort zurückkommt; Sie sind Menschen, die dem Bösen dauernd begegnen in seiner dumpfen, gereizten, hoffnungslosen, hässlichen Wirklichkeit. Sie wissen all das besser als ich.

Evangelische und katholische GefängnisseelsorgerInnen als NeueinsteigerInnen im Gespräch bei der 50. Fachtagung „Kirche im Justizvollzug“ im Wilhelm-Kempf-Haus in Wiesbaden-Naurod.

Eine überfordernde Aufgabe

Und nun lesen wir das Wort Christi, das unglaubliche, aufreizende, abenteuerliche Wort: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch seit Anbeginn der Welt bereitet ist … denn im Gefängnis war ich und ihr seid zu mir gekommen. Da werden die Gerechten fragen: Herr, wann haben wir Dich im Gefängnis gesehen und sind zu Dir gekommen? Der König wird ihnen zur Antwort geben: „Wahrlich, ich sage euch: was ihr auch nur einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 34—40). […] Es ist Ihnen geboten, den Herrn in denen zu finden, die Sie im Gefängnis besuchen. Welch erschreckende und überfordernde Aufgabe! Sagen Sie nicht, das Wort sei nicht so ganz ernst zu nehmen, verlangt sei doch im Grunde ein wenig menschliches Mitleid, ein wenig vernünftig dosierte Hilfe, ein nüchterner Realismus, der sich nichts vormachen lässt, aber auch nicht zu schnell an der Menschheit verzweifelt, sondern in einem humanistischen Optimismus an das Gute in jedem Menschen glaubt, es weckt und nochmals eine Chance gibt, es besser zu machen, und wo das nicht mehr geht, eben sich damit tröstet, dass es Psychopathien gibt, die ebensowenig zu heilen sind wie andere Krankheiten und einem auch nicht mehr zu Herzen gehen sollen als diese anderen Krankheiten, die schließlich alle zum Tode führen, unheilbar sind, ohne dass darum die Menschheit sich ihre gute Laune verderben lässt. Nein, und abermals nein. Es ist von Ihnen mehr verlangt. Sie sollen den Herrn in den Gefangenen finden; er soll Ihnen selbst zu Ihrem eigenen Heil in diesen Gefangenen begegnen. […]

Demut vor den anderen Menschen

Wir müssen ihn in den Gefangenen suchen und finden. Und es ist nicht leicht. Man kann ihn auch übersehen und blind an ihm vorbeigehen, selbst wenn man mit dem Leib und mit seiner „Pflichterfüllung“ in den Gefängnissen anwesend ist, selbst wenn man im Rufe eines guten Gefangenenhausseelsorgers steht. Was heißt nun, Christus selbst in seinen Brüdern im Gefängnis finden? Es heißt zunächst einmal: ehrfürchtige Demut vor dem anderen Menschen, der ein Kind Gottes und ein Bruder Jesu Christi ist, ein Berufener, ein Geliebter Gottes, ein von der Gewalt göttlicher Liebe Umfangener. Wir wissen alle .., dass jeder noch in diesem Leben pilgernde Mensch zum Heil berufen, von Gott geliebt, von Christi Gnade umfangen ist, selbst wenn er sie noch nicht in Freiheit angenommen hat. Wir wissen, dass wir im Grunde keinen richten können, von gar niemandem mit absoluter Sicherheit sagen können, dass er in Gottes Gnade lebt, und so aber auch von gar niemandem sagen können, dass er sie verloren hat. Und so wie wir mit unbedingter Sicherheit im Vertrauen auf Gott für uns selbst die barmherzige Gnade Gottes erhoffen müssen und das ewige Heil, so haben wir dieselbe Pflicht der Hoffnung (da wir den Nächsten lieben müssen wie uns selbst) auch für jeden Nächsten.

Nie die letzte Wahrheit eines Menschen

Und wir wissen, dass in jedem Menschen ein ewiges Geschick am Werden ist und in aller Belanglosigkeit des Alltags und der erbärmlichen Dutzendware Mensch heranreift. Das alles wissen wir. Wir haben es nie bestritten. Aber wir leben es nicht. Diese unendliche Würde, dieser unverlierbare Adel, die Tatsache, dass jeder Mensch unendlich mehr ist als ein Mensch, ist bei uns weitgehend eine sehr dünne sonntägliche Ideologie, die wir theoretisch nicht bestreiten, weil sie uns nicht weh tut und uns im Alltag nicht hindert, den Normen und Haltungen des Alltags zu folgen. Wenn aber im nüchternen Alltag unser Blick, den wir auf den Nächsten richten, hindurchginge durch alle degenerierte Leiblichkeit, durch alle Fassaden seiner Triebhaftigkeit, seiner Dressate, seiner physiologisch bedingten seelischen Physiognomie, hindurch durch alles, was dieser andere selbst von sich denkt und will, durch alle Selbstinterpretationen, die ja nie die letzte Wahrheit eines Menschen von sich selbst sagen können, hindurch durch alle schicksalsbedingten Abläufe in einem solchen Leben aus Vererbung, Erziehung, Milieu, verborgener Krankheit, Psychopathien, ja selbst noch hindurch durch wahre, furchtbare Schuld, weil auch sie nicht das Letzte ist, weil auch sie noch (wie Paulus sagt) umfangen und eingeschlossen ist vom größeren und mächtigeren Erbarmen Gottes, wenn so unser Blick durch alles Vorläufige hindurch das Eigentlichste und Letzte im anderen Menschen suchte und fände, Gott, seine Liebe, sein Erbarmen, die diesem Menschen eine ewige Würde verliehen hat und ihm in der unbegreiflichen Selbstverschwendung göttlicher Torheit der Liebe reuelos sich selbst anbietet und anträgt, wenn dieser Blick da wäre nicht in einer Feierstunde, sondern dort, wo uns dieser Mensch mit seinem stumpfen Blick, seiner Unempfänglichkeit und seinem Armeleutegeruch begegnet, wo er uns mürrisch und gereizt, böse und unbelehrbar, dummschlau und raffiniert entgegentritt, dann würden wir diesem Menschen wirklich mit ehrfürchtiger Demut begegnen, die eigentlich uns in uns selbst auch keine höhere Würde und heiligere Berufung erkennen lassen kann, als sie in diesem anderen ist. […]

Wir selbst in den Gefangenen

Wir finden in den Gefangenen uns selbst, indem wir in ihnen unsere eigene verborgene Situation erblicken. Jeder Mensch läuft sich selbst immer wieder davon. Nur vollendete Heilige könnten sagen, dass sie sich selbst nicht mehr über sich selbst betrügen. Nur die Vollendeten halten die Wahrheit Gottes in sich nicht mehr nieder. Die Wahrheit, dass wir Sünder sind; die Wahrheit, dass wir uns selbst suchen; die Wahrheit, dass wir in tausend groben und subtilen Weisen immer Gott und uns selbst zu dienen suchen; die Wahrheit, dass wir feige und bequeme, faule und störrische Knechte Gottes sind; die Wahrheit, dass wir das nicht tun, was wir tun sollen: Gott aus ganzem Herzen und mit allen Kräften lieben. … Wir sind die unfrei Gefangenen, wenn uns nicht der Geist Gottes, seine Gnade, befreit. … Und dessen sind sie, die wir besuchen, ein Bild, ein Bild aller derer, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, eingekerkert im Verlies ihrer Endlichkeit, ihrer durch Christus noch nicht befreiten, unter der Sünde, dem Fleisch, der Macht des Bösen versklavten Freiheit. Bild dieses Gefängnisses der „Welt“ ist das Gefängnis, in dem sich Ihre Tätigkeit abspielt, nicht in einem äußerlichen, künstlichen Sinn, nicht durch eine künstliche Analogie, sondern Bild als Erscheinung, als wahrer realer Typos, als Sichtbarwerden einer geheimen Wirklichkeit, die sich selbst in diesem realen Symbol ihre Erscheinung und Greifbarkeit schafft.

Denn welche immer die nächsten Ursachen der Gefängnisse sein mögen und der Not ihrer Insassen, die eine und letzte Ursache ist die Schuld der Menschheit von Anbeginn an, die Schuld, die sich fortzeugt durch alle persönliche Schuld der einzelnen, die auch in Not, Krankheit und Unglück inkarniert uns anblickt, die Schuld, die auch in unserem eigenen Leben Macht ist, so dass, was wir die Gefängnisse und Zuchthäuser nennen, eigentlich für das christliche Verständnis des Daseins doch nur Einzelzellen greifbarer Art jenes einen großen Gefängnisses sind, das die Schrift die „Welt“, „diesen Äon“, die „Welt, die im Argen liegt“, den Herrschaftsbereich des Fürsten dieser Welt, den Machtbereich der Mächte der Finsternis, des Todes und des Bösen nennt. […] Wir haben keine Wahl: wir gehen entweder durch die Gefängnisse wie die Pharisäer: Herr, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie einer von diesen, wie die Räuber, die Betrüger, die Ehebrecher, oder wie der Zöllner im Evangelium bei Lukas: dieser stand in der Ferne, in jener Ferne, in der unser unerlöstes Empfinden die Gefängnisse von Gott entfernt wähnt, er schlug an seine Brust und nicht an die der anderen (wie wir es gern tun bei unseren Besuchen im Gefängnis) und sagte: Gott sei mir Sünder gnädig! (Lk 18, 9 – 14.) Nur wenn wir in den Gefängnissen auftreten wie der Zöllner im Tempel, wandelt sich für uns arme Sünder das Gefängnis zu einem Tempel, von dem wir gerechtfertigt nach Hause gehen. Sonst gehen wir in das wahre Gefängnis unserer eigenen Blindheit, Verlogenheit und des Stolzes ein, dem Gott widersteht, während vielleicht diejenigen, die drinnen bleiben, die Gerechtfertigten und die vor Gott Freien sind. […]

Karl Rahner | Quelle: Sendung und Gnade (1961), S. 447 – 463

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert