Norbert K. galt als einer der gefährlichsten Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt Werl. Ich war dringend davor gewarnt worden, allein seine Zelle zu betreten, deren Haftraumtür von Warnzeichen übersät war. Er hatte um ein „kurzes Gespräch“ gebeten; aber nur, wenn ich allein käme. Nach zwei Stunden saß ich immer noch neben ihm auf dem Bett. Seine Stimme war wie die eines alten, gebrochenen Mannes; leise, brüchig, halblaut, tonlos. Dabei war er gerade Mitte dreißig. In Werl hatte er bereits etliche Jahre „abgemacht“. Soweit ich mich erinnere, sollte er sich im „offenen Vollzug“ bewähren.
Dort war er abgehauen; wohl wegen einer Frau und seinem Kind. Auf der Flucht erzwang er unter Drohungen die Herausgabe eines Autos. Da eine Personenbeschreibung präzise war, wusste die Polizei sofort, mit wem sie es zu tun hatte und löste weiträumig eine Ringfahndung aus. Kurzfristig war Norbert K. in den Besitz von Waffen gekommen. Als er vor sich eine Straßensperre erkannte, raste er auf die zu und schoss „wie im Rausch“ auf die Polizisten und tötete einige, was er erst später aus den Nachrichten erfahren habe. In einer waghalsigen Fahrt gelangte er in den Großraum Dortmund, wo er sich in einem Wald „verkriechen“ wollte. Die Fahnder waren ihm auf den Fersen. Die einzige Rettungsmöglichkeit sah er darin, auf einen Baum zu klettern und dort solange zu bleiben, „bis die Luft rein war“. Regen kam ihm „zu Hilfe“, so dass die Suchhunde seine Spur verloren.
Die wissen, mit wem sie es zu tun haben
Er habe sich „nichts vorgemacht. Wenn die mich kriegen, knallen die mich ab.“ An einer Verhaftung seien die nicht interessiert; dafür „habe ich denen zu viel angetan.“ Nach einigen Tagen und Nächten auf dem Baum, wo er sich kaum noch halten konnte, floh er weiter. Bei „Freunden“ versah er sich mit Kleidung, Geld und Proviant, änderte sein Aussehen und wollte in den Süden. Wenn er erst mal in Spanien sei, kenne er genug Verstecke. Kurz vor der Grenze sei er aus dem Stand von Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag umstellt gewesen und verhaftet worden. Für die geringste Gegenwehr oder weitere Flucht gab es keine Chance. Alles ging blitzschnell. „Die wussten, mit wem sie es zu tun hatten.“ „Verpfiffen“ hatte ihn wahrscheinlich ein „Freund“, der dadurch „seinen Hals aus der Schlinge ziehen wollte.“ Die Auslieferung nach Deutschland verzögerte er solange wie möglich, um sich „ein bisschen auszuruhen, zu erholen und für den Prozess Kräfte zu sammeln.“ Er wusste: zur Reststrafe, die er noch „abmachen“ musste, bekäme er lebenslänglich ohne Ende. Damit saß er jetzt da.
Mit Pistolenknauf geschlagen
Nach längerem Schweigen sah er auf, drehte sich zu mir und sagte sinngemäß: “Das habe ich noch keinem erzählt. Keiner wollte es hören, keiner wollte es wissen.” Ich entgegnete: „Gibt es noch mehr, was bisher keiner hören wollte?“ Er: „Was meinen Sie damit? Ich: „Vielleicht wie Sie dazu gekommen sind. Das hat doch eine Geschichte.“ Mit mehr Farbe und Klang in der Stimme begann er nach einer Weile lebendiger zu reden. Sein Vater war bei der Polizei gewesen; wenn ich mich richtig erinnere irgendwo in Südosteuropa. „Dumm und brutal. Hatte nichts gelernt.“ Irgendwie war der an den Posten und an eine Waffe gekommen. Unter Einsatz von beidem wollte er den Sohn „abrichten“, dass der alles ausschließlich auf Anordnung vom Vater tat und bei Verbot unterließ. Norbert K. kannte den Vater nur in Uniform und Schaftstiefeln. Um seiner Autorität nachzuhelfen, legte der die Pistole auf den Tisch, sobald der Sohn ein Widerwort andeutete. Dauernd wurde er verprügelt und mit dem Pistolenknauf blond und blau geschlagen. Die Mutter war so ängstlich und eingeschüchtert, dass sie sich eher verkroch als dass sie wagte, ihm zu helfen. Aus Gram und vor Angst ist sie „eingegangen und gestorben“. Danach wurde es noch schlimmer.
Als Norbert K. etwa 14 Jahre alt seinem Vater körperlich gewachsen und schulisch-geistig weit überlegen war, kam es zur Auseinandersetzung, die alles änderte. Nach massiven und schwer beleidigenden Worten zwischen ihnen habe der Vater blitzschnell die Pistole entsichert und ihm an die Schläfe gehalten. Was in dem Moment in Norbert K. abgelaufen und eingerastet ist, konnte er nach Ablauf vieler Jahre noch nicht benennen. Auch war die Erinnerung daran wie weggeblasen, wozu sein Vater ihn damals gezwungen hatte. Als er wieder zu sich kam, war er unterwegs. „Nur weg; nur weg.“ Irgendwann war er in Deutschland angekommen und hat sich mit kleinen Diebereien über Wasser gehalten. Bald reichten ihm die Erträge nicht. Nach dem ersten Raub besorgte er sich „für alle Fälle mal“ eine Waffe. Es kam, wie es meist kommt: er wurde gestellt. In dem Moment, „wo ich Uniformen sah, konnte ich nur noch ballern, bis das Magazin leer war.“ Wie aus leeren Augen sah er zu mir, senkte dann den Kopf und schüttelte ihn still. „Ja, so ist das gewesen. So hat alles angefangen. Aber so soll es nicht weiter gehen.”
Der ist ja ganz aufgeräumt
Nur, der ganze Knast wimmelt ja von Uniformen. Jedes Mal, wenn ich einen von denen sehe, dann dreht sich in mir was um. Immer wieder spüre ich die Pistole meines Vaters an meiner Schläfe. Wenn ich davon träume, ist es ganz furchtbar. Dann zittere ich am ganzen Körper, schwitze wie verrückt. Manchmal schreie ich wohl auch.“ Norbert K. sagte spürbar erleichtert: „Mann, hat mir das gut getan!“ Wenn er mir später auf dem Weg zum Duschen schwer bewacht im Treppenhaus begegnete, blinzelte er mir fast verschmitzt lächelnd zu. Ein Kollege, der länger auf der Abteilung Dienst hatte, meinte nach einiger Zeit: „Ihr Besuch hat Herrn K. wohl ganz gutgetan; der ist irgendwie aufgeräumter und längst nicht des mehr so aggressiv.“ Wieder einmal in Werl wurde er dem Abteilungsleiter vorgeführt, um zu erfahren, dass er weiter „eingekocht“ bleibt. Als er ins Büro kommt, sieht er fünf bis sieben Abteilungsbeamte mit Gummi- knüppeln. Der AL sitzt hinter seinem Schreibtisch in einer Ecke. An Stelle einer Begrüßung sagt Norbert K .etwa: Mann haben Sie eine Angst! So viele Leute brauchen Sie, um Sie zu schützen! Oder sind die alle zu meinem Schutz da? Keine Sorge! Bisher habe ich mich immer noch verteidigen können! Vor mir brauchen Sie keine Angst zu haben! Dabei schaut er sich frech grinsend zu den mit Knüppeln bewehrten Beamten in seinem Rücken um. Nachdem er „eingekocht“ war, ging er schmunzelnd und Kopf schüttelnd auf die Zelle zurück.
Ernst Lauven | Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire
Von 1987 bis 1996 arbeitete Lauven in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl
Ernst Lauven
Geboren 1933, seit 1961 im priesterlich-seelsorglichen Dienst des Erzbistums Paderborn in mehreren Gemeinden sowie in der Kur-, Krankenhaus- und Strafvollzugsseelsorge bis 1996. 1974 Beginn der pastoralpsychologischen Weiterbildung in Klinischer Seelsorge-Ausbildung (KSA), 1987 Anerkennung als Pastoralsupervisor DGfP/KSA. Seit 1999 Lehrsupervisor DGfP/KSA sowie Mitarbeit in den Pastoralkursen im Erzbistum Köln. Von 1987 bis 1996 arbeitete er in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl. Er war Mitglied im ehemaligen Arbeitskreis kritischer Strafvollzug e.V. Lauven wohnt seit seinem Ruhestand 1996 in Köln.