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Ein Resozialisierungsgesetz nicht nur in Nordrhein-Westfalen

25. September 2023

In Hamburg gibt es dies bereits seit 2019:  Ein Resozialisierungs- und Opferhilfegesetz. Solch ein Gesetz möchte ambulante Hilfen durch ein Übergangsmanagement wirksam mit dem Strafvollzug verknüpfen. Im Rahmen einer Eingliederungsplanung soll erstmalig ein Rechtsanspruch darauf bestehen. Nun stellt die FDP Fraktion in Nordrhein-Westfalen die Forderung, zum „besseren Schutz vor gewalttätigen Wiederholungstätern“ ein Resozialisierungsgesetz einzuführen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (BAG-S) reagiert darauf mit einer Stellungnahme und schildert die derzeitige Situation in den Justizvollzugsanstalten.

Die BAG-S ist der Zusammenschluss der Wohlfahrtsverbände auf Bundesebene und dem Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik (DBH) e.V. […] Die Resozialisierung ist ein Ziel im Strafvollzug, welches auch nach der Föderalismusreform in sämtlichen Landesstrafvollzugsgesetzen verankert wurde. Eine gelungene Resozialisierung geht über die bloße Verhinderung von Rückfällen hinaus und beinhaltet auch die soziale Integration der Entlassenen. Soziale Integration bedeutet dabei nicht nur den Aufbau von Beziehungen im familiären Umfeld, sondern schließt auch den Aufbau und die Stärkung sozialer Netzwerke in beruflichen, freizeitlichen und anderen
Bereichen mit ein.

Grundrecht auf Resozialisierung

Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem Grundrecht auf Resozialisierung. Dieses Grundrecht resultiert aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und „verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen“. Der „sinnvolle Behandlungsvollzug“ ist deshalb kein zusätzliches Angebot, sondern die „verfassungsrechtlich notwendige“ Ergänzung der Freiheitsstrafe. Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt in seinem Urteil zur Gefangenenvergütung betont, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, „ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen“. Dieses muss am „Stand der Wissenschaft“ ausgerichtet sein und regelmäßig wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Der Staat muss den Strafvollzug daran orientiert, finanziell und personell so ausstatten, wie es zur Realisierung dieses Vollzugsziels notwendig ist. Für eine gelingende Resozialisierung sind unterschiedliche Programme notwendig, die zu unterschiedlichen Zeiten (vor der Inhaftierung, nach der Inhaftierung, nach der Entlassung), von unterschiedlichen Akteuren (Bedienstete der JVA, Soziale Dienste, freie Straffälligenhilfe, u.a.) angeboten werden. Diese Maßnahmen und Akteure gilt es zu koordinieren, um ein bedarfsgerechtes durchgehendes Hilfeangebot zu gewährleisten. Sowohl in als auch außerhalb der Gefängnisse behandeln diese Maßnahmen die unterschiedlichen Lebensbereiche.

  • Die Förderung des Täter-Opfer Ausgleichs oder Programme zur Vermeidung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen verfolgen das Ziel, Inhaftierungen und die damit verbundenen negativen Erfahrungen überhaupt erst zu vermeiden.
  • Die Zeit im Vollzug kann sinnvoll gestaltet werden mit Ausbildungsprogrammen oder Sprachkursen, Tataufarbeitung, Schuldentilgung oder Teilnahme an Suchtgruppen. Gleichzeitig gilt es Verschlimmerungen wie bspw. Wohnungsverlust, neue Schulden oder Gewalterfahrungen zu vermeiden.
  • In Vorbereitung auf das Leben in Freiheit sind Vollzugslockerungen (Ausgänge, u.a.) und die Unterbringung im Offener Vollzug notwendige Schritte, um einen Entlassungsschock zu verhindern.

  • Ein Übergangsmanagement, bereitet bspw. 9 Monate vor der Haftentlassung mit den Gefangenen die Entlassung vor: Welchen Bedarf der Unterstützung gibt es? Wird Wohnraum benötigt, wie kann ein Einkommen gesichert werden, was ist zu organisieren (Ausweis, Krankenversicherung, Konto, u.a.), welche medizinische Versorgung ist im Übergang notwendig, u.a.
  • Diese Betreuung gilt es dann auch nach der Haftentlassung fortzuführen und insbesondere in der kritischen Phase nach der Entlassung, in der immer wieder Planungen auch scheitern und neue Lösungen gefunden werden müssen, wichtig.

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Klassisches Problem

Eine Person, die nach einem Jahr Gefängnis mit einem ‚blauen Sack‘ die Anstalt verlässt, ohne gültigen Personalausweis, ohne Krankenversicherung, ohne Arbeit und Einkommen und ohne Wohnung mit einer Fahrkarte zur nächsten Obdachlosenunterkunft ist das Szenario eines gescheiterten Übergangsmanagements. Dieses findet täglich in Deutschland statt und zeigt, dass trotz aller Fortschritte des Strafvollzuges der letzten Jahrzehnte, der die Begleitung bei der Entlassung in Freiheit noch Verbesserungsbedarf besteht. Es handelt sich hier um ein klassisches Problem: Die Justiz ist für die Gefangenen bis zum Tag der Haftentlassung zuständig. Sie sorgt für Unterkunft, Verpflegung, medizinische Behandlung und Beschäftigung. Ab dem Tag der Entlassung ist diese Zuständigkeit aber aufgehoben. Ein Systemwechsel findet statt und die Notwendigkeit alles neu zu organisieren: Wohnung, Arbeit, Einkommen, medizinische Versorgung, Tagesstruktur, Familienbeziehungen und Freizeitbeschäftigung. An dieser Stelle ist es sinnvoll nicht nur über ein Übergangsmanagement zu sprechen, dass bei den einzelnen JVAen implantiert wird und an vielen Orten bereits existiert. Sondern über ein Resozialisierungsgesetz, welches die strukturelle Trennung zwischen drinnen und draußen aufbricht, indem es auch die unterschiedlichen Behörden und Zuständigkeiten miteinander verzahnt und Kooperationen verbindlich macht. Diese Trennung stellt sich in der Praxis nicht selten als unüberwindbar heraus und bringt für das Übergangsmanagement hohe Hürden mit sich. […]

Resozialisierungsgesetz in NRW

Ein Resozialisierungsgesetz in Nordrhein-Westfalen kann einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Strafrechtssystems leisten, wenn es gelingt, die unterschiedlichen Maßnahmen und Hilfen in Haft und außerhalb der Haft effektiv zu verbinden. Hierzu könnten folgende Inhalte formuliert werden:

  • Das „Ultima-Ratio“ Prinzip wird als erster Grundsatz aufgenommen. Ambulante Sanktionen sind zu bevorzugen.
  • Das Gesetz schafft ein landesweit einheitliches Konzept für den Umgang mit straffällig gewordenen Menschen. Dies schafft Klarheit über die Prozesse und Standards bei der Resozialisierung. Welche Leistungen Gefangene beziehen, ist damit nicht von dem Zufall abhängig, in welcher JVA sie untergebracht sind.
  • Das Gesetz sieht Maßnahmen und Programme vor, die die äußeren Bedingungen für die soziale Wiedereingliederung schaffen. Dazu gehören Unterstützung bei der Arbeits- und Wohnplatzvermittlung, Bildungsmöglichkeiten sowie Unterstützung bei der Schaffung sozialer Netzwerke.
  • Ein Resozialisierungsgesetz fördert die Vernetzung verschiedener Akteure, darunter Justiz, Straffälligenhilfe, Gesundheitssystem und Sozialdienste. Hierzu gehören konkrete Vereinbarungen mit Behörden über den Zugang zu Leistungen (beispielsweise das Erstellen eines Personalausweises in Haft, Zugang zu Angeboten der Sozialen Wohnhilfe, usw.)
  • Das Gesetz schafft Anreize für alternative Strafmaßnahmen und Sanktionen, um Haft soweit wie möglich zu vermeiden.
  • Das Gesetz setzt konkrete Standards für die Fachlichkeit der sozialen Arbeit im Strafvollzug und in der ambulanten Straffälligenhilfe. Dadurch wird eine qualitativ hochwertige Betreuung der Menschen sichergestellt.

  • Die Institutionalisierung des Übergangsmanagements im Resozialisierungsgesetz unterstützt die erfolgreiche Wiedereingliederung von Strafgefangenen in die Gesellschaft. Sofern die Betroffenen aktiv mitarbeiten, sollten sie bspw. rechtzeitig vor der Entlassung, wo sie eine Unterkunft erhalten und welche Leistungen sie bei Arbeitslosigkeit erhalten. Damit einher gehen Regelungen zu verbindlichen Strukturen und Zuständigkeiten, die Fokussierung auf eine individuelle Bedarfsanalyse sowie die Schaffung von Möglichkeiten zur Weiterführung von Behandlungen.
  • Ein wichtiges Element ist die Sicherstellung der Gesundheitsfürsorge für Strafgefangene, insbesondere für psychisch beeinträchtigte Personen. Das Gesetz sollte Standards für medizinische Versorgung, einschließlich psychischer Gesundheit, festlegen und die Aufstockung von gesundheitlichem Fachpersonal vorsehen.
  • Das Gesetz stellt langfristig die finanziellen Ressourcen zur Verfügung. Damit haben die Träger Planungssicherheit und können gutes Personal langfristig an sich binden.
  • Das Grundrecht auf Resozialisierung gilt auch für Menschen, denen eine Abschiebung droht. Diese sind nicht von obigen Maßnahmen auszuschließen, nur weil ggf. ihre Zukunft nicht mehr in Deutschland liegt.
  •  Ein entsprechendes Resozialisierungsgesetz in NRW kann somit die Bedingungen für eine Reintegration von straffällig gewordenen Menschen deutlich verbessern. Dies dient auch dem Opferschutz.

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Psychisch beeinträchtigte Personen

Die bedarfsgerechte Versorgung von psychisch beeinträchtigten Strafgefangenen ist zweifellos eine komplexe Herausforderung, da die Inhaftierung selber, nicht unerheblich negativ auf die Gesundheit einer Person einwirken kann. Um unter diesen Bedingungen auf die vielschichtigen Bedürfnisse der Inhaftierten eingehen zu können, benötigt der Vollzug qualifiziertes Personal, Zugangsmöglichkeiten der
Inhaftierten zu entsprechenden Einrichtungen und koordinierte Prozesse der Diagnostik und Behandlung. Aufgrund der hohen Prävalenz von psychischen Beeinträchtigungen ist es erforderlich, dass im Haftsystem eine gleichwertige Gesundheitsfürsorge gewährleistet wird, wie außerhalb des Strafvollzuges. Dies bedeutet, dass psychisch beeinträchtigte Strafgefangene Zugang zu Diagnose, Behandlung und Unterstützung erhalten müssen. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachbereichen, darunter medizinisches Personal, PsychologInnen, Sozialarbeitende, Vollzugsbeamte und externe ExpertInnen. Nur durch eine interdisziplinäre Herangehensweise können umfassende und sachgerechte Lösungen gefunden werden. Neben der Behandlung ist auch die Prävention von psychischen Problemen von großer Bedeutung. Hierzu sind Programme zur Förderung der psychischen Gesundheit in Haft genauso notwendig, wie die Schulung des Personals zur Früherkennung oder die Integration von psychosozialen Angeboten im Haftalltag. Die Unterstützung psychisch beeinträchtigter Personen sollte über die Haftzeit hinausgehen. Eine nahtlose Übergabe an die Straffälligenhilfe und Eingliederungshilfe ist wichtig, um sicherzustellen, dass die begonnenen Behandlungs- und Unterstützungsmaßnahmen fortgesetzt werden können.

Nicht abhängig machen von Straftaten

Die BAG-S unterstützt die Forderung des Antrags geflüchtete Menschen, die aufgrund einer Erkrankung straffällig geworden sind, Zugang zur medizinischen Behandlung zu gewähren. Der Zugang zu medizinischen und psychologischen Behandlungsmaßnahmen sollte jedoch nicht von der Begehung von Straftaten abhängig sein. Die im Antrag der FDP-Fraktion benannten Beweggründe teilen wir nicht. Schwere Straftaten werden sowohl von Meschen mit deutscher Staatsangehörigkeit begangen, als auch von Menschen ohne diese. Sie werden begangen von Menschen mit und ohne psychiatrischen Diagnosen. Sie werden von Menschen begangen, die aus dem Strafvollzug entlassen werden als auch von Menschen, die noch nie vorher Straftaten begangen haben. Es ist die Aufgabe des Staates für all diese Personengruppen den Strafvollzug und die folgende Entlassung nach dem Ziel einer gelungenen Reintegration auszurichten. Diese muss, wie jüngst vom Bundesverfassungsgericht gefordert, auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Kriminologie basieren. An dieser Stelle ist in allen Bundesländern noch viel zu tun. Ein Resozialisierungsgesetz hat hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.

Quelle: Stellungnahme der BAG-S
Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Landtags NRW, 27. September 2023

 

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