Auf Heranwachsende das Erwachsenenstrafrecht anwenden? Diese Forderung ist nicht neu. Das aktuelle Wahlprogramm der CDU und CSU enthält die Ankündigung, junge Erwachsene völlig aus dem Jugendstrafrecht zu entfernen. Diesem Ansinnen stellt sich der Vorstand des DVJJ in ihrem Positionspapier entgegen.
Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund für die Zurückdrängung oder gar Abschaffung der Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende − insbesondere kann Straftaten von Heranwachsenden mit dem Jugendstrafrecht effektiver entgegengewirkt werden als mit dem allgemeinen Strafrecht. Es ist seit 1953 gesetzlich festgelegt, dass Heranwachsende, also Personen zwischen 18 und unter 21 Jahren, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen nach dem Jugendstrafrecht anstatt nach dem Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden können. Die Praxis macht von dieser Möglichkeit sehr häufig Gebrauch. Immer wieder gibt es Bestrebungen, diese bewährte und flexible Sanktionsmöglichkeit abzuschaffen und festzulegen, dass Heranwachsende zwingend oder jedenfalls im Regelfall nach Erwachsenenstrafrecht abzuurteilen sind.
Jugendstrafrecht führt nicht zu einer generell milderen Sanktionspraxis
Aktuell ist diese Idee Teil des Wahlprogramms der CDU/CSU. Dabei wird angestrebt, die Heranwachsenden vollständig aus dem Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts zu entfernen, sie also immer nach Erwachsenenstrafrecht zu behandeln. Unter dem Schlagwort „Gleiche Rechte, gleiche Verantwortung“ wird erstens suggeriert, im Jugendstrafrecht würde nicht gleichermaßen wie im Erwachsenenrecht zur Verantwortung gezogen und zweitens, es handele sich bei der Andersbehandlung von Heranwachsenden um einen Sonderfall. Da der Vorschlag in der Rubrik „Recht und Ordnung“ platziert ist, wird offenbar drittens davon ausgegangen, die Behandlung Heranwachsender würde der besseren Verhinderung von Kriminalität dienen. Diese Annahmen treffen allesamt nicht zu! Im Jugendstrafrecht werden Heranwachsende genau so zur Verantwortung gezogen wie im allgemeinen Strafrecht. Auch wenn Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt, wird bei Heranwachsenden die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit vorausgesetzt, denn § 3 JGG findet nach § 105 Abs. 1 S. 1 JGG auf Heranwachsende keine Anwendung. Auch in der Sache wird im Jugendstrafrecht zur Verantwortung gezogen. Das gilt im Jugendstrafrecht nicht weniger als im allgemeinen Strafrecht!
Die Anwendung von Jugendstrafrecht führt nicht zu einer generell milderen Sanktionspraxis; für die oft bemühte These des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) als angebliches „Kuschelstrafrecht“ finden sich keinerlei empirische Belege. Im Gegenteil, im Vergleich zu den sogenannten Jungerwachsenen (21−25 Jahre), die tendenziell höher mit Vorstrafe belastet sind, kommt es durch die Anwendung von Jugendstrafrecht sogar zu einem höheren Anteil an nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen.6 Das Jugendstrafrecht trifft den jungen Menschen nicht weniger hart als das Erwachsenenstrafrecht, es trifft ihn nur zielgerichteter und dabei möglichst individuell, passgenau und ressourcenorientiert. All das kann das Erwachsenenstrafrecht mit seiner unflexiblen Ausgestaltung nach dem Motto „Geld oder Knast“ gerade nicht. Die Sonderbehandlung junger Volljähriger ist keine Spezialität des Jugendstrafrechts. Die Rechtsordnung geht an vielen Stellen davon aus, dass junge Volljährige impulsiv, vulnerabel und gleichzeitig formbar und entwicklungsfähig sind. Beispielsweise gibt es Beschränkungen im Waffenrecht, Fahrerlaubnisrecht und Glückspielrecht sowie Betäubungsmittelrecht.
Keinerlei kriminal- und sicherheitspolitischer Nutzen
Das SGB VIII (Jugendhilfe) gewährt Leistungen für junge Volljährige bis zum Alter von 27 Jahren, SGB II und SGB III (Bürgergeld/Grundsicherung und Arbeitsförderung) sehen zahlreiche Sonderregelungen für unter 25-Jährige vor, um den Übergang von der Schule in den Beruf zu unterstützen, aber z. B. auch ein faktisches „Auszugsverbot“ aus dem Elternhaus. Die Rechte junger Volljähriger sind daher einerseits über viele Rechtsgebiete hinweg begrenzt, um sie selbst und andere zu schützen, anderseits bestehen besondere Unterstützungssysteme, die ihrer dynamischen Entwicklungsfähigkeit und ihrer Entwicklungsnotwendigkeit Rechnung tragen. Die Sonderbehandlung beruht auf gesicherten psychologischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen. So heißt es bereits in dem Regierungsentwurf vom 31. März 1952: „Es ist eine gesicherte Erkenntnis der modernen Wissenschaft, dass die charakterliche, insbesondere die sittliche Reifung desjungen Menschen in der Gegenwart mit der körperlichen und intellektuellen Reifung nicht mehr Schritt hält. Ein beachtlicher Teil der Heranwachsenden macht deshalb äußerlich einen reifen Eindruck, während eine eingehende Untersuchung vielfach beweist, dass die sittliche und charakterliche Entwicklung erheblich zurückgeblieben ist.“ Daran hat sich nichts geändert, im Gegenteil!
Auch wenn die biologische Reifung im Laufe der vergangenen Jahrhunderte immer früher eingesetzt hat, so ist andererseits in der Fachwelt unbestritten, dass sich die durch die Entwicklung auf psychologischer und sozialer Ebene gekennzeichnete Jugendphase verlängert hat und heutzutage bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt reicht. Äußerlich kennzeichnend hierfür ist, dass beispielsweise der Eintritt in das Berufsleben und damit zusammenhängend die umfassende Verselbstständigung vom Elternhaus sowie Heirat und Familien gründung im Durchschnitt deutlich nach dem 21. Lebensjahr erfolgen. Neuere Forschung zeigt darüber hinaus eindeutig, dass die neurobiologische Reifung des Gehirns, insbesondere seiner für die Verhaltenssteuerung maßgeblichen Teile, bis deutlich in die Altersphase zwischen 20 und 30 andauert. Die für Jugendliche oftmals typischen Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz − beispielsweise beim Aufbau eines Wertesystems und eines ethischen Bewusstseins als effektive Richtschnur für eigenes Verhalten, bei der Aneignung sozial verantwortungsvoller Verhaltensweisen − sind daher in hohem Maße auch für Heranwachsende typisch. Von einer Herausnahme der Heranwachsenden aus dem Jugendstrafrecht ist keinerlei kriminal- und sicherheitspolitischer Nutzen zu erwarten. Erkenntnisse der Rückfallforschung sprechen für die Möglichkeit, Jugendstrafrecht auch auf Heranwachsende anzuwenden. Denn es ist bekannt, dass formelle, insbesondere freiheitsentziehende Reaktionen kaum einen Beitrag zur Verhinderung oder Beendigung von kriminellen Karrieren, jedoch einen großen Beitrag zu ihrer Verfestigung leisten, und andererseits − jedenfalls bei leichten und mittelschweren Taten − informelle und ambulante Reaktionen geringere Rückfallquoten vorweisen können als freiheitsentziehende Sanktionen.
Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (DVJJ) ist Deutschlands Fachverband für Jugendkriminalrecht. Sie fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit der am Jugendstrafverfahren beteiligten Professionen und fungiert als unabhängiges Beratungsorgan für kriminalpolitische und praxisrelevante Fragestellungen.
Der Verband hat rund 1.500 Mitglieder aus allen Berufsgruppen, die am Jugendstrafverfahren beteiligt sind oder sich wissenschaftlich mit Jugenddelinquenz und Jugendkriminalrecht befassen. Bei Rückfragen und für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an das Team der Geschäftsstelle der DVJJ, Telefon: +49 511 / 590 90 90, info(at)dvjj.de
Keine sachlichen Gründe einer verschärften Änderung
Die genannten Gesichtspunkte werden von der Praxis berücksichtigt und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass insoweit mit Blick auf effektive Verhinderung von Straftaten ein Problem besteht. Im Jugendstrafverfahren ist die Bewertung der Frage, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, fester Bestandteil des Verfahrensganges. Nach Beratung des Gerichts, insbesondere durch die Jugendhilfe im Strafverfahren, wird die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende durch das zuständige Gericht individuell und nach Recht und Gesetz entschieden; dies selbstverständlich auch verbunden mit der Möglichkeit, diese Entscheidung durch Einlegung eines Rechtsmittels überprüfen zu lassen. Wenn Teile der Politik nun mit den jeweiligen Ergebnissen der einzelnen Abwägungsentscheidungen offenbar unzufrieden sind, stellt sich die Frage, warum ein solches Misstrauen in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates besteht. Die Politik sendet ohne rechtliche oder sachliche Grundlage die Botschaft, dass sie mit der Handhabung in der Praxis nicht einverstanden ist − ein fatales Signal an das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz und die Professionalität aller Verfahrensbeteiligten. Das Vorhaben, Heranwachsende vollständig aus dem Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts herauszunehmen kann sich nicht auf sachliche Gründe stützen! Es steht in Widerspruch zur Empfehlung des Europarates zur Behandlung von Heranwachsenden im Jugendstrafverfahren.
Diese als Mindeststandard formulierte Empfehlung lautet: „Um der Verlängerung der Übergangszeit zum Erwachsenenalter Rechnung zu tragen, sollte es möglich sein, dass junge Erwachsene unter 21 Jahren wie Jugendliche behandelt werden und die gleichen Maßnahmen auf sie angewandt werden, wenn der Richter der Meinung ist, dass sie noch nicht so reif und verantwortlich für ihre Taten sind wie wirkliche Erwachsene.“ Sachgerechter wäre die generelle Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht, das in seinen Rechtsfolgen wesentlich differenzierter ist als das allgemeine Strafrecht, welches nur Geld- und Freiheitsstrafe kennt. Aus diesen Gründen haben sich bereits sowohl die Zweite Jugendstrafrechtsreform-Kommission wie auch der 64. Deutsche Juristentag für die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht ausgesprochen.18 International ist in den letzten Jahren eine rege Debatte über die Übergangsphase vom Jugend- ins Erwachsenenalter entstanden: Die Phase der „emerging adulthood“ wird zunehmend als dem Jugendalter ähnlich anerkannt. In verschiedenen europäischen Rechtsordnungen sind in jüngerer Zeit – auch nach deutschem Vorbild – Ausweitungen des Jugendstrafrechts auf über das 18. Lebensjahr hinaus erfolgt (Österreich, Niederlande). Es ist geradezu absurd, dass in dieser Situation in Deutschland ohne jeden sachlichen Grund eine gegenteilige Forderung aufgestellt wird. Heranwachsende gehören in das Jugendstrafrecht! Gesamtes Positionspapier…