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Pastoralpsych. Assoziationen zur fragwürdigen Praxis des Ablasses

3. März 2025

Existentielle Grunderfahrungen des Lebens, wie Leben und Tod, Bindung und Trennung, Schuld und Vergebung, beschäftigen die Menschen seit jeher. Sie finden Ausdruck im reichhaltigen Schatz der „Traditionals“ der Menschheit, in den Ritualen, Mythen und Erzählungen, in den Heiligen Schriften der Religionen, wie auch in den Inszenierungen in Theater, Oper und im Film. Diese halten vielfältige Varianten zur Deutung und Bewältigung des Lebens in seiner Konflikthaftigkeit bereit.

Mit der Proklamation des Heiligen Jahres 2025 bringt die katholische Kirche ein eigenartiges Narrativ in den Diskurs ein: den Ablass. Er stammt zwar aus dem Kontext der Erfahrungen von Schuld, Sünde und Erlösung. Doch stellt sich die Frage, ob die Deutung der existentiellen Grunderfahrung des Schuldigseins und Schuldigwerdens, insbesondere unter Einbeziehung der Folgen der Schuld, in gegenwärtiger Zeit mittels eines umstrittenen theologischen Konstruktes aus längst vergangenen Zeiten angemessen und hilfreich ist. Hat die Kirche aus dem reichhaltigen Fundus ihrer Überlieferung nicht genügend andere Narrative, die dem Thema Schuld und Vergebung Ausdruck verleihen?

1. Ins Schulddilemma verstrickt

Die Erfahrungen und die Umgangsformen mit der Verstrickung des Menschen ins Schuldigsein und Schuldigwerden können wir als „Schulddilemma“ benennen. Sie sind natürlich auch Thema der biblischen Überlieferung, kirchlicher Tradition, seelsorglicher Praxis sowie theologischer Reflexion. Ich greife hier aus dem Fundus biblischer Überlieferung Psalm 51 heraus. An sehr prominenter Stelle im biblischen Narrativ bringt er die Erfahrungen des Schuldigseins und Schuldigwerdens wie auch den Umgang der Menschen damit ungeschminkt zur Sprache. Unter Einbeziehung des Propheten Nathan, der hier als konfrontierender Umkehrinitiator und -begleiter agiert (Ps 51,2), bietet dieser Psalm ein bis heute aktuelles Muster für eine zu entwickelnde Buß- und Umkehrpastoral an. Er bringt zum Ausdruck, dass der Mensch in der Lage ist, sich seiner Schuld und deren Folgen bewusst zu werden und durch Umkehr eine Neuorientierung zu suchen.

Schlussendlich wird hier deutlich, dass Gott bereit ist, trotz allen Schuldigseins mit dem schuldbewussten und umkehrwilligen Menschen immer wieder neu anzufangen und ihm neue Möglichkeiten zu eröffnen. Die Quintessenz dieses Psalmgebetes ist, dass hier, trotz aller Schuldverfallenheit des Menschen, die relationale Dynamik einer Neuschöpfung zwischen Gott und Mensch beschrieben wird und eben kein endgültiger Bruch. „Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist“ (Ps 51,12). Dieser Psalm ist für die folgenden Überlegungen zu Schuld und Ablass aus zwei Gründen besonders bedeutsam. Mit dem mörderischen Machtmissbrauch des Königs David gegen den Hethiter Uriah benennt er zum einen, in nur einer Fußnote, den offensichtlich realhistorischen Hintergrund der in diesem Gebet benannten schweren Schuld Davids und ihrer Folgen (Ps 51,2). Zum anderen ist es bemerkenswert, dass die gesamte Kirche in der Eröffnung ihres Stundengebetes, im täglichen Gotteslob, an diesen Psalm anknüpft: „Herr, öffne mir die Lippen, …“ (Ps 51,17). So erinnert sie sich selbst an die reale Möglichkeit des Schuldigseins und Schuldigwerdens wie auch an die Angewiesenheit auf Ent-Schuldigung, auf das Erbarmen der Mitmenschen und auf das Erbarmen Gottes.

Das tägliche Stundengebet der Kirche wird hier, so ein erstes Fazit aus der Perspektive der Pastoralpsychologie, durch den Bezug zu diesem Psalm und in der Rückbindung an den dort thematisierten Schuldkonflikt zu einer geerdeten und relationalen Alltagsspiritualität. Voraussetzung dazu ist es, an den Schuldkonflikten und -erfahrungen nicht vorbeizureden oder gar vorbeizubeten. Schuldigsein, Schuldigwerden, theologisch gesprochen die Erfahrungen von Sünde und ihren Folgen, sowie Umkehr und Erbarmen werden durch die Aktualisierung im Stundengebet zu einem heilsamen Thema im Hier und Jetzt. Dieser Rückgriff auf die biblische Ur-Kunde zielt auf die komplexe Dynamik der Verstrickung des Menschen ins Schulddilemma und auf seine Bewältigung. Es steht nun die Frage im Raum, ob und inwieweit ein mit dem Ablass verbundenes „Heiliges Jahr“ der konfliktdynamischen und konstitutiven Schulderfahrung der Menschen eine eigene, heilsame Perspektive eröffnen kann.

2. Heiliges Jahr und Ablass – Ein fragwürdiges Zusammenspiel

Die überraschend pastoral angelegte Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr 2025 „Spes non confundit“ von Papst Franziskus bahnt zunächst einmal einen Weg in heilsame Richtung. Der Papst greift hier ein großes Spektrum von (Krisen-) Themen der Gegenwart auf. Dabei macht er es sich zum Ziel, Hoffnungsperspektiven zu entwickeln (Spes non confundit 1). Den Menschen selbst nennt er „Pilger der Hoffnung“ (5) – eine ermutigende Deutung in Krisenzeiten, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft und für die Kirche. Erst am Schluss seines Verkündigungsschreibens geht der Papst sehr grundsätzlich auf das „Gericht Gottes“ (22) und daraus folgend auf den mit der Feier des Heiligen Jahres verbundenen „Ablass“ (23) ein. Damit wendet er sich den oben schon genannten existentiellen Themen Schuld, Sünde und Vergebung zu. Er deutet sie mittels eines theologischen Konstruktes aus der frühesten kirchlichen Tradition und verknüpft sie schlussendlich noch mit dem Thema des ewigen Lebens. Der Ablass diene, so schreibt Papst Franziskus, „kraft des Gebetes in besonderer Weise“ denjenigen, „die ihren irdischen Weg vollendet haben, … die uns vorausgegangen sind, damit ihnen die volle Barmherzigkeit zuteilwird“ (22).

Papst Franziskus öffnet am 26. Dezember 2024 die Heilige Pforte im Rebibbia-Gefängnis in Rom. Zum ersten Mal in dieser langen Jubiläumstradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht, öffnete der Papst ein fünftes heiliges Portal in einem römischen Gefängnis als symbolisches Zeichen, das alle Gefangenen einlädt, mit Hoffnung und neuem Vertrauen in die Zukunft zu blicken. Foto: Imago

Trotz des Vollzuges der Feier der Versöhnung in der sakramentalen Beichte gelte es, die „in unserem schwachen, vom Bösen verführten Menschsein“ weiterhin wirksamen „Folgen der Sünden“ durch den Ablass zu beseitigen (23). So dient er speziell dazu, vom begangenen Bösen, das vor dem Gericht Gottes nicht verborgen bleibe, zu reinigen, „um den endgültigen Übergang in Gottes Liebe zu ermöglichen“ (22). Der Ablass wird hier vorrangig als wirksames Fürbittgebet der Kirche für die schon verstorbenen, aber noch nicht endgültig erlösten Seelen verstanden. Letztlich dient er ihrer Errettung. Mit der Fokussierung auf das theologische Thema der „Beseitigung der Folgen der Sünden“ und auf die daraus folgende Praxis bekommt das Verkündigungsschreiben nun eine fragwürdige Perspektive. Diese wird noch durch die von der Apostolischen Pönitentiarie am 13. Mai 2024 erlassene „Ablassordnung für das Heilige Jahr 2025“ verstärkt. Sie regelt bis ins Detail die Voraussetzungen wie auch die spirituellen und rituellen Praktiken zum Erreichen des Ablasses. Will man dies nun näher bewerten, so bleibt festzuhalten, dass der ursprünglich diesseits, an den Zeichen der Zeit orientierten pastoralen Ausrichtung des Verkündigungsschreibens zum Heiligen Jahr durch das Junktim mit dem Ablass, und noch verstärkt durch die Ablassordnung, eine auf das Jenseits ausgerichtete Perspektive folgt. Damit aber gehen der ursprünglichen Intention des Heiligen Jahres, ein Jahr der Hoffnung zu werden, der Lebensbezug und der Bezug zu den realen Alltagserfahrungen der Menschen verloren. Eine spannende Frage dürfte es sein, ob dieser Lebensbezug überhaupt herstellbar ist und aus welchen Fachgebieten Beiträge hierzu zu erwarten wären.

3. Schuldigsein und Schuldigwerden: Thema für Psychologie und Theologie

Mit der Grunderfahrung des Schuldigseins und Schuldigwerdens des Menschen und wie mit den Erfahrungen der Folgen der Schuld umzugehen ist, sind schon immer verschiedene Wissenschaften befasst. So auch die Pastoralpsychologie. Im interdisziplinären Diskurs entwickeln sie Theorien und Deutehorizonte, wobei sie auch auf die mythologischen Traditionen der Menschheit – Ödipusmythos und Sündenfall – zurückgreifen. Diese sprechen vom Schuldigsein und Schuldigwerden des Menschen als einer anthropologischen Grundkonstante. Angesichts des unvermeidlichen Schulddilemmas zeigen sie, soweit als möglich, unterschiedliche Auswege aus dem Dilemma auf. Diese werden im weiten Spektrum von Seelsorge, Beratung, auch Psychotherapie konkret bis hin zu rituellen Feiern der Versöhnung, nicht zuletzt in der klassischen, sakramentalen Beichte. Hier ist nun die Pastoralpsychologie gefragt, praxisrelevante Konzepte der Seelsorge zu entwickeln. Dabei fokussierte sie bisher allerdings stark auf die Schuldthematik. Das Thema des Ablasses steht, von Ausnahmen abgesehen, kaum im Vordergrund. Dies mag verwundern, zumal die Kirche neben der Buß- und Beichtpastoral auch die Ablasspraxis, nicht nur im Heiligen Jahr, als einen Ausweg aus dem Schulddilemma versteht. Ziel ist es dabei, so Papst Franziskus, „… den endgültigen Übergang in Gottes Liebe zu ermöglichen“ (22).

4. Schuld – Erlösung – Wiedergutmachung. Pastoralpsychologische Anmerkungen

Nun kann das schwierige Thema „Ablass“ in seiner Komplexität an dieser Stelle nicht grundlegend erörtert werden. Aus der Perspektive psychoanalytisch orientierter Pastoralpsychologie, die sich als praktisch-theologische Wissenschaft versteht,  sollen hier einige Anfragen und Impulse genügen. Weitere Fragen und Themen, die auf die to-do-Liste künftiger theologischer Reflexion gehören, können hier nur aufgezeigt werden: Fragen nach dem Gottes- und Menschenbild, nach dem Verständnis von der Seele, nach Erlösung – Soteriologie und Eschatologie im Besonderen –, nach den Konzepten seelsorglichen Handelns, nach den zu Grunde liegenden Zeitdispositiven im Spiel zwischen Gegenwärtigkeit und Ewigkeit sowie schlussendlich nach dem Selbstverständnis der wissenschaftlichen Theologie am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Relationale Seelsorge angesichts des „Schulddilemmas“

Angesichts der anthropologischen Grunderfahrungen des Schuldigseins und Schuldigwerdens folge ich einem pastoralpsychologisch fundierten Konzept „relationaler Seelsorge“. Dabei hatte ich bisher die mit der Ablassthematik einhergehenden Fragen nicht in den Blick genommen. Das Junktim von Heiligem Jahr und Ablass führt nun zu den folgenden Anfragen. Sie sind jedoch nicht grundsätzlich als Abgrenzung oder gar Ablehnung zu verstehen. Sie regen vielmehr eine praktisch-theologische Relecture der Ablassthematik für unsere Zeit an und wollen eine heilsame Perspektive eröffnen:


  • Hier ist zunächst festzuhalten, dass die am Ablass orientierte kirchliche Praxis die aus dem Schuldigsein und Schuldigwerden resultierenden „Sündenfolgen“ in den Raum des Jenseits und damit in einen imaginierten Raum der Stellvertretung verlagert. So ist die Ablasspraxis in den ZeitRaum der Ewigkeit verlagert und ermöglicht es der Kirche, die Zuständigkeit für das jenseitsorientierte Seelenheil der Menschen zu ergreifen. Durch diese Fokussierung auf das Jenseits verliert sie allerdings den Bezug zur Erfahrung der Menschen im Hier und Jetzt.
  • Im Gegensatz hierzu wird eine pastoralpsychologisch fundierte, relationale Seelsorge die Auseinandersetzung mit dem Schuldigsein und Schuldigwerden sowie mit den Folgen der Schuld des Menschen immer im Kontakt, also in Beziehung und damit im diesseitigen Raum des Hier und Jetzt suchen. Der christliche Deutehorizont eröffnet nun jedoch – paradox! – im Hier und Jetzt einen die Gegenwärtigkeit überschreitenden Raum, nennen wir ihn „Ewigkeit“ oder „Transzendenz“. Hier finden im Leben der Einzelnen offen gebliebene Themen, so auch Schuld, Sünde und deren Folgen, einen neuen Raum des Gewahrwerdens. Er ist menschlicher Machbarkeit und Verfügung entzogen. Aus der Perspektive diesseitiger Existenz können wir ihn als einen Raum „ritueller Erfahrung“ verstehen.
  • Die für das Heilige Jahr angeregte Ablasspraxis unterstützt alte Vorstellungen von einer kirchlichen Schlüsselgewalt über das jenseitige Seelenheil der Menschen. Dies kann klerikale Macht und (unbewusste) Größenfantasien fördern. Diese sind auch bei den Gläubigen möglich, die sich für das endgültige Seelenheil der „armen Seelen“ mitverantwortlich fühlen und den Ablass im Sinne des Nachlasses zeitlicher Sündenstrafen durch die in der Ablassordnung festgelegten Regeln zu erwirken suchen.
  • Durch die Spaltung in Diesseits und Jenseits wird das Vertrauen in das gnadenhafte Wirken Gottes, speziell der Glaube an seine Barmherzigkeit, in den Raum des Jenseits transzendiert und an die Zuständigkeit und Vermittlung der stellvertretend betenden Gemeinschaft der Kirche delegiert. Dabei ist hervorzuheben, dass die sich hier andeutenden Prinzipien von Stellvertretung und Solidarität sich nicht nur exklusiv auf den jenseitigen Raum beziehen dürfen. Solidarität und Stellvertretung werden vielmehr erst dann praxisrelevant, wenn sie auf die Räume des Diesseits und Jenseits zugleich zielen und damit eine Spaltung verhindern.
  • Die Fokussierung auf „Stellvertretung“ und „Solidarität“ als christliche Grundhaltungen könnte zu einer neuen inhaltlichen Füllung von Ablass werden, etwa in dem Sinne, dass Schuld und ihre Folgen nicht nur individualisiert zu betrachten sind, sondern immer auch als Manifestation gemeinschaftlichen Umgangs in Kirche und Gesellschaft gelten. Ein derart systemischer Blick könnte positiv für einen neuen rituellen Umgang mit den Folgen menschlicher Schuld nutzbar gemacht werden und das Riten-Design des Ablasses kreativ erneuern.

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  • In Anlehnung an die theologische Anthropologie wird der Mensch in gegenwärtigen Seelsorgekonzepten als handelndes und selbstverantwortliches Subjekt verstanden. Unter seelsorglicher Begleitung kann er seiner Schuld gewahr werden und die Verantwortung dafür übernehmen. Trotz der virulenten und eventuell nicht zu beseitigenden Folgen seiner Schuld und Sünde geht er, Anderen und Gott gegenüber, das relationale Wagnis der Bitte um Ent-Schuldigung ein. Dennoch gehören die Folgen von Schuld und Sünde künftighin zu seiner Biographie. Im Ritual werden sie Gott anvertraut und verwandelt.
  • Sofern Seelsorge im Kontext des Schulddilemmas zu einer rituellen, auch sakramentalen Feier der Versöhnung führt, ist sie theologisch – nicht nur aus Aspekten der Sakramententheologie – vom Ablass deutlich zu unterscheiden.
  • Pastoralpsychologie und pastoralpsychologisch fundierte Seelsorge werden sich behutsam bemühen, Ursachen für die „klassische“ Ablasspraxis zu ermitteln. So kann sich aus tiefenpsychologischer Perspektive dahinter neben vielen anderen Gründen eine unbewusste Angst vor ewiger Verdammnis und Verwerfung, in der Sprache der Bibel die Angst vor Fegefeuer und Hölle, offenbaren. Die darin zu Tage tretenden archaischen Bilder gilt es nun jedoch ernst zu nehmen und, wenn möglich, neu mit Deutung und Sinn zu füllen. Durch das Zur-Sprache-Bringen oder das Umformen ins Ritual wird ihnen ihr destruktiver Charakter genommen. Sie unter dem Argument der „Aufklärung“ einfach auszulöschen, wäre verfehlt.
  • Angesichts der Grunderfahrung des Schuldigseins und Schuldigwerdens als Herausforderung für das Leben des Menschen geht es heute darum, die eigene Vorstellung und das Konzept von Seelsorge in seiner methodischen Vielfalt transparent zu machen und die Ziele der Seelsorge auf der Höhe der Zeit und theologisch fundiert zu vermitteln. Wir sind damit an einem entscheidenden Punkt. Es kann nicht genügen, Konzepte aus früherer Zeit, wie das des Ablasses, wenn auch mit guter Absicht, einfach nahezu unverändert in die Gegenwart zu transferieren. Vielmehr geht es darum, angesichts gegenwärtiger Fragen und Herausforderungen anthropologisch-theologisch fundierte Konzepte seelsorglichen und kirchlichen Handelns zu erarbeiten und in den Diskurs zu stellen.
  • Dies kann und muss kritisch, durchaus auch institutionskritisch, erfolgen. Das unveränderte Festhalten am klassisch theologischen Konstrukt des Ablasses bis in die Gegenwart hinein kann in einem solchen Diskurs durchaus als eine Manifestation der Verweigerung theologischer Reflexion verstanden werden. Theologie ereignet sich nun jedoch in relationalen und interdisziplinären Prozessen. Sie ist ein ‚work in progress‘, der an Konflikten und Ambivalenzen des Lebens nicht vorbeigehen darf. Um diesen jedoch gerecht zu werden, muss Theologie, wie Jonas Maria Hoff zuletzt aufzeigte, „immer wieder neu betrieben werden (…). Sie lässt sich nicht voraussetzen, sondern muss entwickelt werden.“ Dabei kommt sie nicht umhin, sich „selbst fundamental mit Paradoxien“ zu konfrontieren und zu akzeptieren, dass alle ihre „Denkfiguren (…) sich einer eindimensionalen Auflösung widersetzen“.
  • Diese Vorgaben dürften zu einer Revision des klassischen Ablassverständnisses führen und eine zeitgemäße Vermittlung seiner Bedeutung in neuer Praxis, neuer Terminologie und in neuem Riten-Design ermöglichen.

Fazit

Aus psychologischer wie auch aus theologischer Perspektive muss das Junktim zwischen dem Heiligen Jahr und dem Ablass hinterfragt werden. Es gehört auf die „to-do-Liste“ praktischer und systematischer Theologie. Grundsätzlich steht die Frage im Raum, ob die Feier eines Heiligen Jahres in enger Anbindung an die Lehre und die Praxis des Ablasses gegenwärtig und auf Zukunft hin als geeignetes theologisches Konzept zur Deutung und Bewältigung existentieller Fragen des Lebens – Schuld und Vergebung, Leben, Sterben, Tod und Erlösung – und damit als Mittel seelsorglicher Praxis angesehen werden kann. Aus pastoralpsychologischer Perspektive erweist es sich als denkbar, vielleicht sogar wünschenswert, künftighin vom Ablass in klassischer Form abzulassen. Ihn jedoch einfach zu streichen, wäre zu kurz gegriffen. Es bedarf vielmehr der Mühe, die klassische Praxis durch theologische Optionen neu zu konzipieren und zu einer heilsamen Praxis zu wandeln. Dies könnte der Idee des Heiligen Jahres Chancen eröffnen, zu einem wirklich konstruktiven Jahr der Hoffnung zu werden, mit Hoffnungsperspektiven, wie sie schon in Psalm 51 vermittelt werden.

Dr. Wolfgang Reuter

 

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