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Zwischen Offline und Online: Sexualität Macht Identität

24. Mai 2023

In Haft ist Sexualität ein Tabu. Unterschwellig scheint das Verbot der Ausübung von Sexualität nach wie vor als Teil der Strafe angesehen zu werden. Nicht bei den GefängnisseelsorgerInnen, die sich unter dem Titel „Sexualität – Macht – Identität“ in der Arbeitsgemeinschaft Jugendvollzug derzeit im Erfurter Priesterseminar treffen. Die aus der katholischen, wie evangelischen Kirche kommenden TeilnehmerInnen aus dem Bundesgebiet wissen, wovon sie sprechen.

 

Eine Gefängnisstrafe scheint – nach landläufiger und medialer Meinung – auch Enthaltsamkeit von Vergnügen und Lust zu beinhalten. Weil Sexualität individuell abgespalten werden muss und die Thematik Sexualität im Vollzug offiziell ausgeblendet wird, finden alle Formen gelebter sozialer Sexualität mehr oder weniger verdeckt statt. „Durch eine Verobjektivierung des weiblichen und des männlichen Körpers in Form von Postern an den Zellenwänden, Pornografie und einer starken Präsenz sexualitätsbezogener Gesprächsinhalte drückt sich der entfremdete Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen aus“, sagt Prof. Dr. rer. pol. Heino Stöver, Sozialwissenschaftler in Frankfurt. Der vor allem im Gesundheitssektor und der Suchtforschung bekannte Hochschulprofessor kennt sich im Strafvollzug in Deutschland sowie in anderen Ländern bestens aus.

Vorbilder für jugendliche Inhaftierte?

„Es existieren zwar Modelle in Strafanstalten, die im Rahmen von Langzeitbesuchen auf eine Ermöglichung sexuelle Kontakte unter (Ehe-) PartnerInnen zielen und lockerungsberechtigte Häftlinge können im Urlaub sexuelle Kontakte haben. Doch dies sind vereinzelte und isolierte Möglichkeiten Sexualität zu leben“ führt Stöver aus. Das Dilemma besteht in der Allgegenwärtigkeit von Sexualität im Gefängnisalltag und der stark eingeschränkten Befriedigung und letztlich erzwungenen Milieuanpassung sexueller Bedürfnisse. Doch es gibt einige Lichtblicke, wie ein Gefängnisseelsorger erzählt. „In meiner Anstalt stehen zwei weibliche Bedienstete offen zu ihrer Beziehung“, sagt dieser. Doch wie können Frauen für die männlichen Jugendlichen Vorbild sein? Stöver hat gute Erfahrungen gemacht Sexualität nicht aus persönlicher offenbarender Perspektive anzusprechen, sondern von Menschen zu sprechen, die ihre Geschlechtsidentität und Sexualität in verschiedenen Formen leben.

Umgang in den eigenen Reihen

Auftakt zum Thema macht die Dokumentation „Wie Gott uns schuf – Ein Jahr nach dem Coming Out pastoraler MitarbeiterInnen* in der  (katholischen) Kirche. Wie gehen GefängnisseelsorgerInnen mit der Spannung zwischen den beiden in binären Systemen denkenden Jugendvollzug und Kirche um? Wie blicken sie auf eigene Erfahrungen als Mann oder Frau oder als non binärer Mensch im pastoralen Dienst? Die katholische Sexualmoral ist nicht erst seit der Initiative „Out in Church“ im Fokus der berechtigten Kritik. Durch die MHG-Studie und neuere Erkenntnisse in unabhängigen Missbrauchsgutachten einzelner Bistümer spielen sexualisierte Gewalt und geistlicher Missbrauch innerhalb der Kirche(n) eine bittere Rolle. Mara Klein arbeitet am Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster. Er*sie ist trans nichtbinär und vertrat bis März 2023 die Generation „U30“ beim Synodalen Weg, einem Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland. Per Videokonferenz wird Klein nach Erfurt ins Priesterseminar zugeschaltet. Er*sie gibt einen Einblick in die Debatten um Geschlechtervielfalt und Sexualität in der Katholischen Kirche. Klein ist Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in im DFG-Projekt „Prekäre Anerkennung: Das ‚dritte Geschlecht‘ in sozialethischer Perspektive“. In der zweiten Dokumentation „Wie Gott uns schuf – Nach dem Coming Out“ kommt Er*sie im Film vor.

Zwischen Offline und Online

Prof. Dr. phil. habil. Nicola Döring, Dipl.-Psychologin und Professorin für „Medienpsychologie und Medienkonzeption“ an der Technischen Universität Ilmenau (Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Medien) ist insbesondere in der Forschung sexualbezogener Mediennutzung und medialer Repräsentation von Sexualitäten tätig. Für Jugendliche ist die selbstverständliche Nutzung des Smartphones Teil ihrer Identität geworden. Neben Dating-Apps wie „Tinder“ oder in der queeren Community die Plattform „Planet Romeo“ wird überwiegend Instagram und TikTok genutzt. Die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF sind in diesen sozialen Medien mit ihrem Angebot „funk“ präsent. Durchaus kann man dort sexuelle Aufklärung in Kurzvideos finden.

Ein positives Beispiel ist ein ehemaliger Inhaftierter namens Maximillian Pollux, der auf seinem YouTube-Kanal anstatt mit Drogen zu dealen, in Schulklassen geht und Workshops zur Prävention gibt. Durch KI (Künstliche Intelligenz) geht im Internet noch mehr. Man kann fake-News produzieren, Gesichter einfach austauschen oder politische Falschmeldungen verbreiten. Da reicht ein normales Bild bereits aus. Jede/r kann mit seinem Smartphone Kurzvideos produzieren und bei TikTok einstellen. Die Anzahl der Likes und die Zahl derjenigen, die diese Filme anklicken, sind entscheidend, um „gesehen“ zu werden. „Mit Replika stammen die Antworten, die man erhält, nicht mehr von einem anderen Menschen. Sie stammen von einem Chatbot. Einer künstlichen Intelligenz“, erzählt Döring weiter. Replika ist ein KI-Chatbot, der es Nutzern erlaubt, mithilfe von künstlicher Intelligenz einen ganz persönlichen „FreundIn*“ zu erstellen. Welch angepasste PartnerIn* man präsentiert bekommt, ist vom NutzerIn* abhängig.

Sexualität im Reifungsprozess

Der Leiter des Instituts für sozialtherapeutische Nachsorge und Resozialisationsforschung (ISONA), Prof. Torsten Klemm, blickt mit der Gruppe auf die Geschichte in den 20 er Jahren zurück. Karl Plättner (1893-1945), der mehrere Jahre aus politischen Gründen inhaftiert war, reflektierte ausgehend von eigenen Erfahrungen und Berichten seiner Mitgefangenen über sexuelle Begegnungen im Gefängnis. Er schilderte unter anderem „pseudohomosexuelle“ Kontakte unter den Gefangenen. Zwar in einer anderen Sprache, aber mit denselben Inhalten wie damals verabschiedete die Generalversammlung der World Association for Sexuology (WAS) 1999 in Hongkong die „Erklärung der sexuellen Menschenrechte“: Privatsphäre, Gleichwertigkeit, Lust, Ausdruck sexueller Empfindungen und Gesundheitsfürsorge.

Sexuelle Beziehungen werden während der Haft teilweise einvernehmlich eingegangen, teilweise erzwungen. In der neueren Literatur werden „Triebstau“ und „Sexualnot“ in den Gefängnissen selten diskutiert. „Manche der Jugendlichen erleben in ihrer Pubertät den ersten homoerotischen Kontakt in der JVA und damit ihr Coming Out in Haft“, erzählt der Psychologe Klemm. Sexuelle Beziehungen werden während der Haft teilweise einvernehmlich eingegangen, teilweise erzwungen. „Während haftbedingte Homosexualität häufig als Verunsicherung und Bedrohung der gewohnten heterosexuellen Geschlechtsidentität erlebt wird, kann importierte Homosexualität im Sinne eines positiven Entwicklungsmodells verstanden werden“ führt Döring weiter aus. Wer sich outet, wird im homophoben Milieu des Gefängnisses häufig beschimpft, gilt als unmännlich und wird besonders unter maskulin oder patriarchal auftretende Mitgefangene verhöhnt.

Soziokulturelle Kontakte

Aus der Freien Straffälligenhilfe werden Projekte an den Vollzug herangetragen, die die Familienorientierung – z.B. in Form von Vater-Kind-Seminaren, Eheberatung im Besuchsdienst – fördern sollen. Manche dieser externen Projekte ermöglichen beiläufig Gelegenheiten zum Kennenlernen und Knüpfen von Beziehungen. Ein Beispiel dafür war das Dresdener Projekt „Richtungswechsel“. Männer und Frauen aus der JVA begegneten in der Anstaltsturnhalle Freiwilligen von draußen und bildeten in eine große gemischte Gruppe, um zusammen ein Theaterstück einzustudieren. Was am Ende blieb, waren Beziehungen, die im Laufe der Proben zwischen inhaftierten Männern und Frauen entstanden waren. Traurig für die Beteiligten: die Frauen wurden nach Abschluss des Projektes in die JVA Chemnitz verlegt und waren damit von den neuen „Partnern“ räumlich getrennt.

 

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