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Im Knast nicht so sehr eingeschränkt wie draußen

18. März 2021

Für Häftlinge ist die Pandemie eine Durststrecke: kaum Besuche und keine Freigänge. Doch die Abschottung hat auch Vorteile. Die Inhaftierten genießen derzeit teils mehr Möglichkeiten als freie Bürger. Als Andi Z. im Dezember vergangenen Jahres seine Tochter erblickt, schießen ihm die Tränen in die Augen. Seit knapp einem Jahr hat er die Fünfjährige zu diesem Zeitpunkt nichtmehr gesehen. Er will sie in die Arme schließen, sie an sich drücken. Doch das kann der 28 Jährige nicht. Ihn und seine Tochter trennt eine Plexiglasscheibe. Eine Sicherheitsmaßnahme im Besuchsraum des Gefängnisses.

Auch die Fünfjährige beginnt zu weinen. Dann schlingt dasMädchen die Arme umden eigenen Körper. Andi tut es ihr gleich. Corona-Drücker. „Das war hart“, erinnert sich Andi heute. Kaum Besuche in Haft Andi Z. – blond, Bart, breite Schultern – heißt eigentlich anders, will seinen richtigen Namen aber nicht öffentlich machen. Er sitzt wegen Körperverletzung in der Jugendanstalt Raßnitz (Saalekreis) in Haft. Zwei Jahre und vier Monate beträgt seine Strafe, seit Oktober 2019 ist er hier. Der 28 Jährige ist das dritte Mal hinter Gittern. Schlägereien, Drogen – der Hallenser steckte tief in der kriminellen Szene. Doch jetzt nicht mehr, beteuert er. Auch hinter Gittern hat Andi die Folgen der Corona-Pandemie zu spüren bekommen – wie alle Gefangenen. Laut Justizministerium in Magdeburg sind Besuche im Gefängnis derzeit aufgrund der Infektionsgefahr nur mit einer Plexiglasscheibe als Barriere und ohne Körperkontakt erlaubt. Außerdem ist nur ein Besucher pro Häftling zugelassen – Kinder sind davon ausgenommen. Zu Beginn der Pandemie war der direkte Kontakt zu Familie und Freunden über Monate gänzlich verboten. Denn die Einrichtungen gelten als sensibel: Wird eine Corona-Infektion hier zu spät entdeckt, könnte sich das Virus rasant unter den eng miteinander lebenden Häftlingen verbreiten.

Wie ein kleines Dorf

„Die Gesundheit der Gefangenen und Bediensteten hat für uns oberste Priorität“, teilt das Justizministerium dazu mit. An diesem frühen Nachmittag steckt Andi sich auf dem Innenhof der Anstalt unter den wachsamen Augen von Gefängnisseelsorger Markus Herold eine Zigarette in den Mund. Gleich sind sie für ein Gespräch in Herolds Reich verabredet: der Gefängniskirche. Umgeben von einem kleinen Wassergraben reckt sich der kantige Backsteinbau im Zentrum der Haftanstalt in die Höhe. Er ist eine Art Oase der Normalität. Keine Gitter, keine Wärter. Eingerahmt wird das Gotteshaus von den rechteckigen Wohnbaracken des weitläufigen Anstaltkomplexes. Rund 400 Gefangene finden hier Platz, aktuell sind etwa drei Viertel der Zellen belegt. Auf den weitläufigen Wiesen am Rand des 1000 Einwohner Ortes Raßnitz erstrecken sich zudem zahlreiche Wirtschaftsgebäude. Friseur, Kiosk, Sporthalle. „Wir haben hier fast alles, was es draußen gibt. Es istwie ein kleines Dorf“, sagt Theologe Herold.

Die Kirche inmitten der Jugendanstalt (JA) Raßnitz. Eine Brücke führt über einen Teich in den seelsorgerlich geschützten Bereich.

In der Jugendanstalt sitzen Autodiebe, Drogendealer und Mörder im Alter zwischen 14 und 30 Jahren. Die meisten blieben zwischen ein und zwei Jahren hier, sagt Herold. Für alle hat der katholische Seelsorger ein offenes Ohr, hört ihre Probleme, ihre Bedürfnisse. Anders als die Wärter unterliegt er einer Schweigepflicht – Vergehen, die ihm die Häftlinge gestehen, darf er nicht melden. Der 41-Jährige erfährt so viel über das Leben der Häftlinge. Auch über das von Andi Z. Die lange Trennung von seiner Tochter sei der größte Einschnitt in der Pandemie, erzählt Andi. Mitte März 2020 habe ihn sein Kind besuchen sollen, doch dann kam Corona. Über Monate blieben ihm nur Briefe und seltene Telefonate mit dem Apparat im Gefängnisflur. Der letzte Besuch ist drei Monate her. Was ihm am meisten fehlt? „Körperkontakt“, entfährt es Andi. „Das gibt einfach Geborgenheit.“

Sind nicht so eingeschränkt

Abseits dessen hat sich das Verhältnis zwischen Außenwelt und Haft jedoch in gewisser Weise umgedreht: „Wir sind nicht so sehr eingeschränkt wie die da draußen“, sagt Andi. Fußballspielen, Friseurbesuch, gemeinsames Beisammensein in den Wohngruppen mit bis zu 15 Menschen – all das war oder ist den Bürgern derzeit untersagt. Aber nicht im Gefängnis. Maskenpflicht? Gibt es hier nur auf den Gängen. „Wir hatten auch immer genug Klopapier und Nudeln“, sagt Andi und lacht. Denn das Gefängnis ist ein geschlossenes System. Die hohen Mauern hindern auch das Virus am Eindringen. Infektionsgefahr gibt es nur durch die Wärter. Doch Tests und Vorsicht haben Corona in Raßnitz bislang draußen gehalten. So abgeschottet die Häftlinge körperlich von der Außenwelt sind, so sehr hängen sie jedoch am Kontakt nach draußen. Schon immer seien Tod und Geburt im sozialen Umfeld für Häftlinge schwer zu ertragen gewesen, berichtet Seelsorger Herold. In der Pandemie habe sich das verschärft.

„Mit der Inhaftierung brechen viele Beziehungen ab. Die, die noch bleiben, werden besonders wichtig.“ Corona treffe dabei viele Insassen hart, sagt der Seelsorger. So sei vergangenes Jahr etwa die Großmutter eines Häftlings an Covid-19 gestorben. „Das ist eine Katastrophe. Man kann nicht hin.“ Abschied am Grab? Untersagt.Herold hat stattdessen eine Andacht in der Gefängniskirche organisiert. Die Einschränkungen dienten jedoch zum Schutz der Gefangenen, betont auch Ulrike Hagemann. Sie leitet die Justizvollzugsanstalt Burg (Jerichower Land). Anders als in Raßnitz leben hier Häftlinge mit Strafen meist weit über drei Jahren. „Wir haben uns den Bedingungen in der Freiheit angepasst“, sagt Hagemann. Und das sei auch nötig. Denn ein Corona-Ausbruch in einer Gemeinschaftsunterkunft sei eine „Katastrophe“. In Burg gab es laut Anstaltsleitung bisher einen Corona-Fall unter den Häftlingen. Eingeschleppt wurde er durch einen Polizisten. Kurz hinter dem Gefängnistor konnte die Infektion per Schnelltest festgestellt werden. Der Gefangene wurde sofort isoliert. Krank sei er nicht gewesen, so Hagemann. „Wir beobachten nicht, dass es den Gefangenen insgesamt schlecht ergeht.“

Mauern gegen das Virus

Das Gespräch zwischen Andi Z. und Seelsorger Markus Herold neigt sich für heute dem Ende zu. Nach einer Abschiedszigarette auf der schmalen Steinbrücke vor der Gefängniskirche tritt Herold seinen Weg in Richtung Ausgang an. Bei jedem Schritt schlägt ihm sein schwerer Schlüsselbund gegen den Oberschenkel. Tür für Tür schließt er auf, Gang für Gang schreitet er in Richtung Außenwelt. Als er an der letzten Sicherheitsschleuse ankommt, verdecken die haushohen Mauern und Zäune den Horizont. Ein Bollwerk gegen Fluchtversuche – und derzeit auch gegen das Virus. Andi Z. hofft indes, die Mauern und Zäune bald hinter sich zu lassen. Ende März hat er einen Termin beim Richter. Wenn es gut läuft, wird der Rest seiner Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Dann kann er im April den Gittern den Rücken kehren. Dieses Mal soll es für immer sein, betont Andi. Ob er noch eine Gefahr für andere ist? „Nein, jetzt nicht mehr.“ Arbeit und eine Wohnung hat er sich schon besorgt. Auf dem Dorf. Weit weg von den kriminellen Kreisen, in denen er einst verkehrte. Doch die Welt, in die Andi dann eintreten wird, ist nicht die, die er verlassen hat. Er wollte mit seiner Tochter an die Ostsee fahren. „Aber leider ist Corona.“ Doch das Wichtigste für ihn ist dann wieder möglich: Er kann sein Kind in die Arme schließen.

Max Hunger | © Mitteldeutsche Zeitung

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