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Nicht aufreiben lassen in all der Zerissenheit

4. September 2022

Die Zerissenheit eines Landes, das sich friedlich auflöste. Daran sollten wir uns immer wieder erinnern.

Es gibt Worte Jesu, die schwer verdaulich sind. „Liebt eure Feinde!“, oder: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin“. Im Evangelium dieses Sonntags heißt es ebenso radikal: „Wenn jemand zu mir kommt, und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben geringachtet, kann er nicht mein Jünger sein.“ Dabei wird mit dem Wort „gering-achten“ noch abgemildert übersetzt, was im Original „hassen“ heißt. Das geht dann doch ganz gegen den Strich: sollen wir nicht lieben statt hassen?

Hier wird eine Haltung beschrieben, die dem menschlich Gewohnten völlig entgegensteht – und so ist es wohl im Evangelium auch gemeint: Jesus beschreibt in dieser radikal anderen Art das Reich Gottes, eine Wirklichkeit, die, so das Zeugnis Jesu, nicht erst jenseitig, sondern schon jetzt als völlig andere Sicht in unser Dasein geradezu einbricht. Sein Aufruf ist, sich dieser so anderen, göttlichen Sichtweise ohne Wenn und Aber bedingungslos zu überlassen in Gewaltlosigkeit und Barmherzigkeit, im Verzicht auf Rache und jede Art von Vergeltung, und der unbedingten Annahme des Leidenden, Fremden, gering Geachteten.

Nicht gefangen sein in Kreisläufen

Aber, um Gottes Willen, wie denn? Müssen wir nicht immer wieder Kompromisse eingehen? Leidvoll wird dies besonders spürbar angesichts des Terrorkrieges Putins in der Ukraine mitten in Europa, wo nach zwei Kriegen im Irrsinn des Nationalismus mühsam Frieden erwirkt wurde. Können, ja dürfen wir heute noch für Gewaltlosigkeit sein? Und müssen wir nicht das Eigene sichern zum Überleben, dem persönlichen und dem der Nachkommen? Zugleich sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, weil sie in ihrer Heimat keinen Ort zum Leben haben. Unsere Welterfahrung ist voller Zerrissenheit, und was uns wichtig ist, Werte und Tugenden, unser Glaube, die Liebe, scheint immer neu wie zwischen unabwendbaren Mühlsteinen zerrieben zu werden. Ich habe hier keine fertige Antwort. Aber mir helfen diese unbedingten und deshalb verlässlichen Aussagen Jesu, mich nicht völlig aufreiben zu lassen in dieser Zerrissenheit. Sie sagen mir, dass das, was ich leidvoll erlebe, nicht alles ist, dass ich nicht gefangen bin in den gewohnten Kreisläufen von Gewalt und Gegengewalt und der Sackgasse der Gier. Die Unbedingtheit, mit der Jesus vom Reich Gottes spricht, ermutigt, in allen Bedingungen und Kompromissen weiter zu sehen, nicht stehen zu bleiben.

Überraschende Wege

Und ich lerne in manchen Begegnungen, wie Wege sich überraschend auftun. Da war die kleine Frau, die völlig verkrümmt durch die Parkinsonerkrankung im Klinikbett lag und in deren Kopf Messdioden eingelassen waren wie in den Schädel geschlagene Nägel, sie hörte eine ganze schlaflose Nacht immer wieder Richard Strauss‘ „Alpensinfonie“; am Morgen sagte sie: „Ich weiß jetzt, dass aus dem Nichts immer neu Musik entsteht – das gibt mir unendlich Hoffnung!“ Und da ist eine Mitarbeiterin in der Klinik, sie stammt aus der Ukraine, und erzählte zu Beginn des Krieges voller Wut, dass sie sofort jeden Russen töten könne – dann begann sie meditierend, die Wut und den Hass anzuschauen und ihre gelebte Fürsorge für die Menschen mit der Wut zu versöhnen. Menschen wie diese beiden Frauen haben den Mut, die Zerrissenheit des Lebens, das Leid, die Passion des Menschen zu durchleben, indem sie sich weder der Ablenkung noch dem Fanatismus hingeben, sondern in dem, was geschieht zugleich eine andere Wirklichkeit sehen, eine göttliche, die da aufleuchtet, wo der Riss sich auftut im Gebäude der menschlichen Gewohnheiten, wo durchkreuzt ist, was bisher sicher schien.

Aussteigend aus all dem Festhalten an Sicherheit und dem Rechthaben, aus den Kreisläufen von Gewalt und Gegengewalt, aus all den so festgefahrenen Mustern menschlichen sich Absonderns erleben wir, dass mehr ist, dass es Weite gibt und Freiheit, dass Gott selbst schon da ist, einladend, versöhnend und barmherzig.

Christoph Kunz | Magdeburg

 

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