Tatort Kirche. Zumindest wird dies so angedeutet: Umrisse eines Menschen am Boden und eine Absperrung. Die jugendlichen Inhaftierten gehen einfach darüber hinweg. Sie hinterlassen Spuren und verwischen die Sprühkreide mit ihren Füßen. Niemand fragt, was das soll. Gute Gründe hinter die Geschichte zu blicken.
Im Gottesdienst wird deutlich, dass es um die Geschichte des Barmherzigen Samariters geht. Jesus erzählt sie als Antwort auf die Frage eines Schriftgelehrten: „Wer ist mein Mitmensch?“ Die Jugendlichen kennen den Status des Täters, sie wurden selbst zum Straftäter. Sie kennen aber auch die Erfahrung des Geschädigten und des Opfers. Im Freistundenhof gibt es ebenso gewalttätige Aktionen. Schwächere kommen unter die Räder. Mitgefangene stacheln an und provozieren noch mehr. Wer hilft dem am Boden Liegenden?
Anerkennung von Menschen
Der, von dem man das kaum erwartet. Der Samariter aus dem „ungläubigen“ Ausland. Niemand derjenigen, die es eigentlich wissen müssten aus der Gotteslehre, kommt zu Hilfe. Der Priester und der Levit wollen sich nicht „beschmutzen“. Heute würden sie eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung bekommen. Dieser Paragraf zeigt, dass dem Gesetzgeber Appelle zur Barmherzigkeit nicht genügen. Eine Gesellschaft, eine Organisation, die sich nur auf Barmherzigkeit verlässt, droht unbarmherzig zu werden. Beispiel Homosexualität: Die Kirche will niemand ausschließen, wird immer wieder betont. Aber wenn die Kirche davon spricht, dass Menschen „anderer sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität“ mit Barmherzigkeit und Taktgefühl begleiten werden müssen, verkennt man das Anliegen der Menschen. Denn sie wollen keine Barmherzigkeit, sondern Anerkennung.
Samariter im Knast
Wenn Gefängnisseelsorgende Einzelgespräche mit den Gefangenen führen, geht es ganz oft um die Anerkennung ihrer verkorksten Geschichte. „Ich höre zu und teile oft Ohnmacht, und selbst bei Atheisten sitzt ´der liebe Gott´ mit am Tisch. Barmherzigkeit bedeutet für mich und meinen Bereich der Gefängnisseelsorge, dass ich jedem Menschen offen begegne und für ihn da bin unabhängig von seiner Geschichte und seiner Straftat“, sagt der ehemalige Gefängnisseelsorger der JVA Wuppertal-Ronsdorf. Findet man Samariter im Knast? Einer der ohne Hintergedanken solidarisch Tabak gibt? Die Bediensteten, die die Gefangenen vor Gewalt schützen müssen oder ein Mitgefangener, der sich trotz des gängigen Knast-Mainstreams einsetzt? Die Erzählung des barmherzigen Samariters zeigt, dass selbst „die Guten“ sich strafbar machen können.
Unrechtsstrukturen aufdecken
Eigentlich müsste man die Unrechtsstrukturen hinter dieser Erzählung bekämpfen. Warum werden zwischen Jerusalem und Samarien so oft Menschen überfallen? Gibt es keine Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Räuber? In der Kirche existieren heute ebenso strukturelle Problematiken, an denen Menschen leiden. „Verantwortliche der Kirche haben bis in die jüngste Zeit sexuellen Missbrauch in den meisten Fällen ignoriert, verschwiegen oder bagatellisiert. Wenn sie zum Handeln gezwungen waren, taten sie dies häufig nicht mit Blick auf die Betroffenen, sondern zum Schutz der TäterInnen und der Institution“, sagt ein schweizer Kirchenrechtler. Es gibt die Gefahr des spirituellen Missbrauchs in der geistlich-seelsorgerlichen Begleitung von Menschen. „Wenn man in seiner Seelsorge ausschließlich auf eine Form der (gottesdienstlichen) Spiritualität fokussiert ist, ist das eine Vernachlässigung anderer Formen und führt zu einer Verengung. Merkmale von sektiererischen Tendenzen sind beispielsweise die hierarchische Struktur, ein Absolutheitsanspruch und gewisse Heilsversprechen.
Gebrochenheit ernstnehmen
Wer ist mein Nächster? Nicht unbedingt eine Gruppe Gleichgesinnter oder fromme Menschen. „Helfen“ ist nicht immer gemeint im Sinne von „gut gemeint ist nicht unbedingt richtig“. Manche Gefangenen wollen sich nicht helfen lassen. Ihnen kann man einen Rettungsring zuwerfen, doch sie nehmen diesen nicht an. Bei Suchterkrankungen zeigt sich das. Mit offenen Augen in den Abgrund? Der Verletzte, von dem Jesus erzählt, hat sich von dem helfen gelassen, von dem er keine Hilfe erwartet hat. So konnte der Samariter ihm erst zum Nächsten werden. Wie oft wird Hilfe abgewiesen, wie oft die helfende Hand ausgeschlagen? Man will sich die eigene Hilfsbedürftigkeit nicht anmerken lassen. Es gibt sie, die Menschen, die sich einsetzen und die Menschen in ihrer Gebrochenheit ernst nehmen. Es gibt sie, die Menschen, die sich Unrechtsstrukturen in Gesellschaft und Kirche klar benennen, debattieren und konstruktiv handeln. Sie sind nicht laut und in der Presse. Es geschieht oftmals im Kleinen und Unscheinbaren. Sie sind ein Hoffnungsfunke zu all den dunklen Nachrichten. Sie sind barmherzige SamariterInnen ohne falsches Mitleid. Auch im Knast.
Michael King