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Nazis töteten seinen Onkel: Australier in der JVA Dortmund

29. Oktober 2023

Peter Dowding reist um die halbe Welt nach Dortmund. Alles nur, um das Gefängnis zu sehen, in dem die Nazis seinen Onkel ermordeten. Warum macht er das? Dowding ist mehr als 16.000 Kilometer gereist, um an einen Ort zu kommen, den niemand freiwillig betreten würde. Im Oktober 2023 geht der 80-Jährige aus Melbourne in Australien über einen Flur der Justizvollzugsanstalt Dortmund.

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Um ihn herum ist der Gefängnisalltag in vollem Gange. Die Räder eines Wagens mit Bettlaken quietschen, Rufe ertönen, Geschirr klappert. JVA-Mitarbeiter Bekir Ercicek und weitere Personen, darunter Dowdings Ehefrau Benita, begleiten ihn. „Hier war es“, sagt Ercicek. Hier, an dieser längst umgebauten Stelle auf der 2. Etage des Gebäudes, ist am 30. Juni 1943 Peters Onkel Bruce Dowding von den Nazis durch Enthaupten hingerichtet worden. Bruce Dowding, geboren 1914, war Australier, der in der französischen Widerstandbewegung vielen Menschen half. Er fiel einem Verräter zum Opfer und wurde im Dortmunder Gefängnis hingerichtet. „Seine Geschichte war mein ganzes Leben lang der Elefant im Raum“, sagt Peter Dowding an diesem Tag in der JVA.

Die Frage „Was hätte Bruce gemacht oder gesagt?“ habe seine Familie, besonders seinen Vater, immer bewegt. Für Peter Dowding schließt sich hier in Dortmund ein Kapitel seines Lebens. Es erzählt eine Geschichte von Familie und Schmerz, von ideologisch angetriebenem Tötungswahn und Faschismus, von Verrat und Obsession. Er trägt ein kariertes Hemd unter grauem Anzug, er hat weißes Haar, eine schwarze Brille auf der Nase, dazu sportliche Schuhe. Er wird an diesem Tag viel laufen. Es geht einmal durch die gesamte Dortmunder JVA. Inklusive aller Treppen, Gerüche, Geräusche und historischen Ereignissen in den Mauern dieses Gefängnisses, das seit 1902 an dieser Stelle an der Lübecker Straße steht.

Grausame Details

Dowding arbeitet mit 80 immer noch als Rechtsanwalt und Steuerberater. Er saß lange im Parlament des Bundesstaates Western Australia, das dünn besiedelt, aber von der Fläche so groß ist wie Frankreich und Deutschland zusammen. Von 1988 bis 1990 war er Premierminister von Western Australia. Unter dem Arm hält er das Buch, in dem ein großer Teil seines Lebens steckt. „Secret Agent, Unsung Hero – The Valour Of Bruce Dowding“ heißt es. Hierin erzählt er erstmals die ganze Geschichte seines Onkels, den er im Titel einen „unbesungenen Helden“ nennt. Dowding ist, das liest sich aus seiner Vita und das ist auch im persönlichen Kontakt schnell zu bemerken, keine Person, die leicht aus der Ruhe zu bringen ist. Aber in diesem Moment auf dem Flur in der zweiten Etage, sind es leichte Veränderungen in seinen Gesichtszügen, die deutlich machen, was das für ein bewegender Moment in seinem langen Leben ist. Die Mundwinkel unter Spannung, die Augen starr geradeaus, nimmt er die grausamen Details auf, die ein Dolmetscher übersetzt. „Es war sehr emotional, selbst wenn ich die Geschichte schon oft gehört und gelesen habe“, sagt er später über diese Sekunden, in denen er erfährt, was an diesem Ort mit seinem Angehörigen passiert ist. An der heute zu einem Versorgungsflur umgebauten Stelle stand zur Zeit der Nazi-Herrschaft das Fallbeil für Exekutionen von politischen Gefangenen.

Letzter Segen durch Vikar

Am 29. Juni wird der Australier mit anderen Häftlingen aus dem Gefängnis in Bochum nach Dortmund gebracht. Einen Tag später führen ihn Wärter gegen 19 Uhr in den Raum, in dem die Guillotine steht. Die Identifikation durch einen Staatsanwalt erfolgt durch kurzes Kopfnicken. Die Angeklagten erhalten geistlichen Beistand durch den Dortmunder Vikar Anton Steinhoff. Dowding muss sich entkleiden, der Oberkörper wird fixiert. Dann löst der Henker Johann Mühl das Fallbeil. 18 Menschen sterben an diesem 30. Juni in Dortmund auf diese Art und Weise. Innerhalb einer Stunde. Die Guillotine steht von 1943 bis 1948 im Dortmunder Gefängnis. Mehr als 300 Opfer der NS-Justiz sind in zwei Jahren dokumentiert. Nach dem Krieg vollstreckt dort auch die britische Militärregierung noch rund 50 Todesurteile. Der Henker heißt Johann Mühl. Bruce Dowding wird anonym auf dem Hauptfriedhof beigesetzt. Normalerweise endet die Erzählung hier, denn die Familie in Australien hat zu diesem Zeitpunkt keinen Hinweis darauf, was mit ihm geschehen ist.

Australier in Frankreich

1938 hatte sich der junge Mann entschieden, aus dem konservativen West-Australien nach Europa aufzubrechen. Sein Ziel ist das Paris der 1930er-Jahre, der ultimative Kontrast zu seinem bisherigen Leben. Er entdeckt seine Liebe zu Land und Sprache. Er trinkt Kaffee an denselben Orten wie Pablo Picasso und genießt das Leben eines Anfang 20-Jährigen. Als der Krieg beginnt, hat Bruce die Möglichkeit das Land zu verlassen. Seine Familie wünscht sich nichts sehnlicher. Doch seine Liebe zu Frankreich und vielen Menschen dort sind stärker. Bruce tritt als Übersetzer in die britische Armee 1940 ein. Als die Wehrmacht Frankreich überfällt, gerät er in Kriegsgefangenschaft. Ihm gelingt 1941 die Flucht nach Marseille. Dort wird er Teil der Bewegung „Pat Line“ (Pat O’Leary-Line) und hilft vielen Menschen im Widerstand gegen die Nazi-
Besetzung bei der Flucht aus Frankreich.

Aus dieser Zeit stammt das letzte Foto, das Bruce Dowding lebendig zeigt. Er steht an der Seite von anderen Widerstandskämpfern wie dem US-Amerikaner Varian Fry, dessen Lebensgeschichte von Netflix verfilmt worden ist. Teil der Gruppe ist auch Harold Cole. Der Mann mit krimineller Vergangenheit tritt in die „Pat Line“ ein, weil er bemerkt, dass hier größere Geldsummen im Umlauf sind. Er stiehlt Geld. Als er dabei ertappt wird, droht ihm eine harte Bestrafung. Cole flieht durch ein Badezimmerfenster, während nebenan die Gruppe über die Konsequenzen berät. 1941 fällt er in Lille in Nordfrankreich in die Hände der Gestapo. Im Verhör verrät Cole bereitwillig alle Namen der Widerstandsaktivisten. Auf der Liste steht auch der Name Bruce Dowding. Dutzende Beteiligte kommen in Haft und werden zum Tode verurteilt. 1943 werden in Folge des „Nacht-und-Nebel-Erlasses“ viele politische Gefangene aus den besetzten Gebieten in deutsche Gefängnisse transportiert. Mit dem Ziel, die Gegner dort auszulöschen und alle Spuren zu verwischen. Die Gefangenen erhalten Nummern statt Namen, damit Verwandte nichts nachverfolgen konnten.

Ein Brief aus Dortmund

Was mit Bruce nach dem letzten Foto aus dem Jahr 1941 passiert ist, weiß in seiner Heimat Australien niemand. Die Ungewissheit stürzt vor allem seine Mutter in tiefe Trauer. Aus dem Nichts erreicht Familie Dowding im Jahr 1947 jedoch ein kurzes Schreiben aus Dortmund. Abgesendet hat es Vikar Steinhoff, der Dortmunder, der dem Gehenkten den letzten Segen gab. Ohne genau zu wissen, welche Dowdings in Melbourne die richtigen Adressaten sind. Der Brief ist eröffnet mit den Worten: „Ich hoffe, dass ich mit diesen wenigen Angaben seinen Angehörigen einen kleinen Trost bereiten kann.“ Im Folgenden schreibt er: „Am 30.6.1943 ist Dowding hingerichtet worden. […] Ich habe ihn kurz auf die Beichte und erste hl. Kommunion vorbereitet und ihn drei Minuten vor dem Tode bedingungsweise wiedergetauft.“ Er sei evangelisch gewesen, habe aber angegeben, dass er in Paris die katholische Kirche lieben gelernt habe. Steinhoff schreibt außerdem: „Dowding ging so gläubig und strahlend in den Tod, dass der Staatsanwalt sich noch sehr darüber geärgert hat.“ Steinhoff muss diese Informationen heimlich aufgezeichnet haben, da ihm sonst selbst drastische Strafen gedroht hätten. Er soll nach dem Krieg mehrere solcher Schreiben an die Angehörigen von Hinrichtungsopfern geschickt haben. Die Nachricht des katholischen Pfarrers gibt der Familie überhaupt erst die Möglichkeit, die Leerstelle zu füllen. Auch, wenn es da noch einmal knapp 70 Jahre dauern wird, weil immer noch Teile im Puzzle fehlen. „Ich habe meinem Vater auf dem Sterbebett versprochen, dass ich dieses Buch fertigstelle. Damit Bruce seinen Frieden findet“, sagt Peter Dowding.


Letztes Teil im Puzzle

Zu diesem Zeitpunkt sitzt er in der Kapelle der JVA. Im einzigen Raum, in dem man zwischen Kirchenfenstern, Altar und Kruzifix beinahe vollständig vergessen kann, dass man sich hinter Gittern befindet. Das letzte Puzzle-Stück Das Projekt sei zwischenzeitlich zu einer „Obsession“ geworden, wie er selbst zugibt. Seine Frau nickt bestätigend. Es ist ein Zufall, durch den sich das Puzzle vervollständigt. Bei der Online-Recherche stößt er 2013 auf einen Bericht aus der Lokalpresse in Bochum, das eine Gedenkveranstaltung von französischen Pfadfindern vor der dortigen JVA zeigt. Auf einem abgebildeten Foto entdeckt er seinen Onkel. Darüber kommt er in Kontakt mit dem Bochumer Gefängnisseelsorger Alfons Zimmer. Dessen Arbeit zu dem Thema hilft, alle Zusammenhänge zu verstehen. „Es war das letzte Stück im Puzzle“, sagt Dowding. Er wolle mit dem Buch zeigen, dass hinter Namen auf Gedenktafeln Menschen stehen, deren Familien echtes Leid erfahren haben, sagt er. „Ich möchte diese Menschen ehren – und denen danken, die die Erinnerung an sie lebendig haben.“ Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt auch eine Debatte in seiner Heimat Australien. Dort wird Bruce Dowding noch immer die Ehrung als Kriegsheld verwehrt, weil er nicht Mitglied der Armee war. Als sich das große Tor der JVA Dortmund wieder öffnet und Peter Dowding ins Freie tritt, wirkt er erschöpft. Aber, dass der Moment, den er sich so viele Jahre vorgestellt hat, jetzt da ist, sei vor allem eines, sagt er: „eine Befreiung“.

Felix Guth | Mit freundlicher Genehmigung: Ruhr Nachrichten

 

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