Die Würde des Menschen ist unantastbar – auch im Gefängnis und gerade da. So heißt es in einem der Grußworte zu der gemeinsamen Tagung der „Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden“ und der „Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter“, die hier dokumentiert vorliegt. Denn gerade wegen der Beschränkungen, die der Freiheitsentzug mit sich bringt, „sind Menschen im Straf- und Maßregelvollzug oder im Gewahrsam besonders schutzbedürftig“
„Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“: Der Name schreckt ab (vgl. 72f). Folter in deutschen Gefängnissen oder im Polizeigewahrsam? Eigentlich unvorstellbar. Doch der Fall Gäfgen beispielsweise macht deutlich, dass das so abwegig nicht ist. Von Magnus Gäfgen wurde 2002 unter Androhung von Gewalt eine Aussage erzwungen, die das Leben seines Entführungsopfers retten sollte. Im Anschluss daran entzündete sich eine Diskussion um die Legitimität von Folter – vom Osnabrücker Philosophieprofessor Rainer Trapp euphemistisch „selbstverschuldete Rettungsbefragung“ genannt und in einem utilitaristischen Ethikansatz gerechtfertigt. Dass diese Diskussion im vorliegenden Tagungsband nicht weiter diskutiert wird, macht ihn nicht weniger interessant. Denn der UN-Antifolterkonvention nach sind Folter alle Handlungen, „die eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen“ (Art. 16, zit. 34). Und das können sowohl Handlungen als auch die unwürdige Unterbringung von Inhaftierten sein.
Der Tagungsband liest sich über weite Teile wie ein Handlungskatalog (für Ethikkomitees), der er sicher nicht sein will. Wie sind Inhaftierte untergebracht? Wie ist der Zustand der Hafträume, der Toiletten, der Duschanlagen? Die hygienischen Bedingungen? Wie sind die besonders gesicherten Hafträume gestaltet? Wie weit reicht die Kameraüberwachung? Wie weit ist die Intimsphäre gewahrt? Wie werden Leibesvisitationen durchgeführt? Wann und in welchem Rahmen müssen sich Inhaftierte entkleiden? In welchen Fällen werden Inhaftierte in Arrestzellen oder besonders gesicherte Hafträume abgesondert (isoliert)? Wann werden Fixierungen vorgenommen? Hand- und Fußfesselungen? Welche Alternativen zur normalen Kleidung (z.B. Papierkleidung) gibt es? Wann darf oder muss Gewalt (Schlagstock, Pfefferspray) angewandt werden? Werden Schusswaffen getragen (und wann)? Fragen, denen sich auch Ethikkomitees stellen.
Der Tagungsband bietet eine Übersicht über die einschlägigen Konventionen und gesetzlichen Regelungen (Gerichtsurteile) auf internationaler und nationaler Ebene: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die UN-Antifolterkonvention von 1984, die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 – „zwar kein deutsches Verfassungsrecht, sie fließt aber in die Bestimmungen dessen mit ein, was deutsches Verfassungsrecht ist“ (102) –, das Grundgesetz von 1949 und einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichtes, um nur die wichtigsten zu nennen (33-46). Dann werden Präventionsmechanismen vorgestellt: Das mit dem Zusatzprotokoll der UN-Antifolterkonvention geschaffene Monitoring System sowie nationale Mechanismen. Verschiedene Länder werden vorgestellt, in denen in Folge der genannten Konventionen da und dort schon Fortschritte verzeichnet werden konnten (49-60), zwei eigene Berichte widmen sich Frankreich (75-79) und Europa (84-92).
Für Deutschland ist die „Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“ zu nennen (61-73). Deren Mitglieder besuchen Haftanstalten und mahnen Missstände an wie beispielsweise 2017 und (noch) 2020 die Doppelbelegung von Hafträumen ohne abgetrennte Toilette. Sie legt jährliche Berichte vor – zuletzt für 2019. Es gibt eine Geschäftsstelle. Die Mitglieder sind ehrenamtlich tätig, sie werden vom Bundesjustizministerium für vier Jahre bestellt. Die Besetzung ist leider etwas intransparent, „Vertreter der Zivilgesellschaft oder von Betroffenenverbänden seien bisher nicht beteiligt.“ (71)
Ein abschließender Beitrag widmet sich der „Anwendung in der Praxis“ in Deutschland (93-128). Hier wird noch einmal deutlich, dass gerade das Gefängnis als „totale Institution“, wie sie Erving Goffman in ihrer „idealtypischen Struktur“ beschreibt, „eine besondere Gefahr der Übergriffigkeit und Misshandlung in sich trägt“ (93). „Nicht zuletzt Zimbardos Stanford Prison Experiment legt drastisch nahe, dass institutionelle Strukturen einen eigenen Beitrag zur inneren Übergriffigkeit leisten.“ (93) Der Beitrag erkundet Möglichkeiten der Umsetzung der rechtlichen Vorgaben, sei es über Beschwerden, Klagen, Anrufung der Anstaltsbeiräte oder Petitionsausschüsse der Länder, benennt aber auch die systembedingten Grenzen, etwa der Beweislast seitens des betroffenen Gefangenen, schriftliche und meistens bildungsferne Gefangene überfordernde schriftliche Verfahren (105). Insgesamt werden zwar positive Entwicklungen und Verbesserungen herausgestellt, wenn auch abschließend resümiert wird: „es bleibt noch einiges zu tun.“ (126)
Zuletzt wird auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelte „Prüfpunkte“ – hier im Kontext isolierender Unterbringung von Gefangenen –, die jedem Ethikkomitee als Grundlage dienen könnten, hingewiesen: Die Beachtung 1. der „Verhältnismäßigkeit“, 2. der „Gesetzmäßigkeit“, 3. der „Erforderlichkeit“ und 4. der „Nicht-Diskriminierung“ etwa bestimmter Gruppen. Und schließlich 5. die Dokumentation durchgeführter Maßnahmen. Insgesamt ist es streckenweise mühsam, sich durch die vielen Hinweise auf Konventionen, gesetzliche Regelungen, Standards usw. durchzuarbeiten. Es ist dennoch lohnenswert, den Tagungsband zu lesen. Nicht zuletzt ist er als Anregung für die Arbeit in Ethikkomitees außerordentlich hilfreich.
Dr. Simeon Reininger | JVA Meppen