Richard Raming (links) mit seinem evangelischen Kollegen Detlef Seibert. Foto: Lena Diekmann, Bergedorfer Zeitung.
Seit fast 15 Jahren arbeitet Richard Raming als katholischer Gefängnisseelsorger in Hamburg. Er möchte den inhaftierten in den JVAen Billwerder und Fuhlsbüttel die Hoffnung auf Vergebung aufrechterhalten – und ihnen so die Chance auf einen Neuanfang ermöglichen. „Eines habe ich im Knast gelernt: Jeder Mensch ist zu nahezu allem fähig,“ sagt er im Interview mit Katja Plümäkers von „Andere Zeiten“.
Mit welchen Themen wenden sich die Gefangenen an Sie?
Oft geht es um die Familie. Viele empfinden Schuld, dass sie durch ihre Taten ihre Familien belastet haben. Die Gefangenen sprechen mit mir über ihre Sorgen um ihre Angehörigen: Wenn es draußen jemandem aus der Familie schlecht geht oder wenn ein Verwandter oder Freund stirbt, und sie können nicht dabei sein. Auch Zukunftsängste kommen zur Sprache: Wie geht es nach dem Knast weiter für mich? Verzeiht mir meine Mutter oder will sie mich nicht mehr sehen? Wie soll ich einen Job und eine Wohnung finden? Es gibt diejenigen, für die alle Antworten negativ ausfallen. Diese Gefangenen sind möglicherweise suizidgefährdet und brauchen besondere Zuwendung.
Wie versuchen Sie, Gefangene zu erreichen?
Ich muss als Seelsorger nicht mühsam Brücken bauen, denn vieles in der Bibel hat direkt mit dem Alltag der Gefangenen zu tun: Zachäus, der Sünder, bei dem Jesus einkehrt und der daraufhin sein Leben ändert; der verlorene Sohn, der zurückkehrt und vom Vater freudig wieder aufgenommen wird; oder auch Kain, der zwar mit dem Kainsmal von Gott als Verbrecher gezeichnet wird, der aber andererseits dadurch ebenso siebenfach gegen die Rache geschützt wird. Man hat den Eindruck, diese Bibelstellen wurden für die Menschen im Gefängnis geschrieben. Oft geht es um die Themen Schuld und Vergebung, um die Zuwendung zu den Sündern. Gott ist barmherzig, er vergibt den Schuldigen und eröffnet ihnen so die Möglichkeiten zum Neuanfang.
Was können Sie den Gefangenen anbieten?
Als Seelsorger im Gefängnis sind wir für viele auch ein Ersatz für Freunde und Familie. Gefangene erfahren häufig Ablehnung durch Angehörige und Freunde, die mit ihren Taten nicht umgehen können. In dieser Situation sind wir für sie da. Die Gefangenen müssen begreifen: Es geht hier um ihr Leben, ihr Leben soll weitergehen, also müssen sie sich überlegen, wie ein möglichst sinnvolles Leben gelingen kann. Ich versuche sie zu begleiten und ihnen bewusst zu machen, dass sie nicht mit ihrer Schuld auch jegliche Daseinsberechtigung verloren haben. Mir geht es vor allem darum, dass man die Straftäter nicht noch weiter ausgrenzt und dem Kreislauf von Gewalt, Schuld und Rache aussetzt, sondern dass man sie wieder zurückholt in die Gesellschaft.
Warum ist die Vergebung wichtig für das Leben nach der Haft?
Die Familie ist der entscheidende Faktor für die Resozialisierung. Deshalb versuchen wir schon während der Haft, eine Brücke zu den Familien zu bauen. Für die Angehörigen eines Straftäters ist das alles andere als leicht, sie haben Angst, wieder von ihm enttäuscht zu werden, und fragen sich, ob sie ihm noch einmal eine Chance geben sollen.
Jesus gibt eine klare Antwort auf die Frage, wie oft man einem Sünder vergeben soll: 70 x sieben Mal. Das Vergeben der Schuld bedeutet nicht zu vergessen. Das ist für die Opfer, aber auch für die Familien der Täter gar nicht möglich. Doch es ist wichtig, dass sich Menschen der Gefangenen annehmen, trotz ihrer Schuld. Ein Mensch ist nicht nur die Summe seiner Taten, sondern behält seine unverletzliche Würde.
Wie gehen die Täter mit ihrer Schuld um?
Viele Täter haben gleich nach ihrer Verhaftung ein gutes Gespür für ihre Schuld. Die Schuld einzugestehen, ist auch eine Voraussetzung dafür, dass ein Gefangener nach der Haft neu anfangen kann. Es ist wichtig, dass die Täter die Perspektive der Angehörigen oder auch der Opfer einnehmen. Das erfordert Empathie, die beim Täter vorhanden sein muss, um sein Verhalten ändern zu können.
Und wenn Vergebung ausgeschlossen ist?
Gerade wenn die Schuld so groß ist, dass Versöhnung und Vergebung durch Opfer oder Angehörige nicht möglich sind, dann ist es für viele Gefangene wichtig zu wissen, dass auch damit nicht das endgültige Urteil über sie gesprochen ist, sondern dass Gott es gut mit ihnen meint, dass er ihnen vergibt und ihnen zusichert: „Du darfst trotz deiner Schuld weiterleben.“ Für manche Täter reicht diese Zuversicht aus, um ihr Leben zu ändern und zu überlegen, wie sie an anderer Stelle etwas Gutes tun können.
Was ist für Entlassene besonders wichtig?
Eigentlich müssten die entlassenen Gefangenen sofort raus ins Leben und sich in ein soziales Gefüge eingliedern, in dem sie ohne Nachfrage nach ihrer Herkunft Fuß fassen können. Chöre, Sportvereine oder ähnliche Gelegenheiten, bei denen sich Menschen kennenlernen und nicht gleich fragen: „Was hast du in der letzten Zeit so gemacht?“ In der Realität gestaltet sich das für viele Menschen schwierig. Im polizeilichen Führungszeugnis bleibt die Schuld wie ein Stigma für das Leben bestehen. Und auch über Suchmaschinen sind heutzutage die Straftaten für alle öffentlich zu verfolgen. Dazu kommen oft Einsamkeit und finanzielle Probleme sowie die Unfähigkeit, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, sodass einige entlassene Strafgefangene weitere Taten begehen und damit fast freiwillig wieder im Gefängnis landen.
Warum fällt es vielen schwer, um ihr Leben zu ändern und auf Gefangene zuzugehen?
Eine Tendenz in der Gesellschaft sehe ich sehr kritisch: Durch die Bestrafung der Täter und die Abwendung von den Gewalttätern erhöht sich bei manchen Menschen das Empfinden ihrer eigenen Schuldlosigkeit. Doch es ist wie beim Gleichnis der Ehebrecherin: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Wenn ich eines in den 15 Jahren als Gefängnisseelsorger gelernt habe, dann das, dass jeder Mensch zu nahezu allem fähig ist. Familie, Kultur, Bildung, Erziehung, Vorbilder, Werte, all diese Faktoren schützen uns davor, schuldig zu werden. Doch wenn das Leben in eine Schieflage gerät, durch Alkohol, Not, Krankheit oder andere Krisen, dann kann jeder schuldig im Sinne des Strafrechts werden, davon bin ich überzeugt.
Aus: Anders Handeln, Ausgabe 1.2017 Andere Zeiten e.V.
JVA Billwerder
Die Justizvollzugsanstalt Billwerder ist eine Anstalt des geschlossenen Vollzugs mit 773 Haftplätzen. Sie ist zuständig für erwachsene männliche Strafgefangene mit einer Vollzugsdauer bis zu zwei Jahren und sechs Monaten sowie für Untersuchungshaft an männlichen erwachsenen Gefangenen mit 673 Haftplätzen. Außerdem stehen 100 Haftplätze für erwachsene weibliche Strafgefangene sowie weibliche jugendliche und erwachsene Untersuchungsgefangene zur Verfügung.
JVA Fuhlsbüttel
Die Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel ist eine Anstalt des geschlossenen Vollzugs mit 300 Haftplätzen. Sie ist vorrangig zuständig für Strafgefangene mit Freiheitsstrafen ab drei Jahren und für Sicherungsverwahrte. Die JVA Fuhlsbüttel, umgangssprachlich Santa Fu genannt, liegt in Hamburg-Ohlsdorf.