Ich erinnere mich, wie ich als Jugendlicher in den Ferien werktags oft in der Heiligen Messe den Ministrantendienst wahrgenommen habe, morgens um 7.15 Uhr. Diese erste – der mitunter drei Werktagsmessen täglich: 7.15 Uhr, 8 und 9 Uhr, feierte meistens ein Subsidiar, der im Gefängnis in Werl als Seelsorger eingesetzt war. Eines seiner Lieblingslieder vermutlich, jedenfalls kam es mindestens wöchentlich vor, eins von Paul Gerhardt, steht auch heute noch im Gotteslob, ein Lied zum Morgen: „Lobet den Herren alle, die ihn ehren.“
Davon wählte er diese Strophe aus: „Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen.“ Als Kind dachte ich mir nichts dabei, außer vielleicht: es gibt doch noch viele andere Lieder im Gesangbuch. Aber er wählte dieses – immer wieder. Mittlerweile schätze ich diese Zeilen. Sie drücken aus: Nichts ist selbstverständlich. Augenblicklich kann sich alles ändern: Das Sehen, das Hören, das Riechen, das Schmecken, das Gehen, das Fühlen, das Reden, das bei Verstand sein – das gesamte Leben. Dass alles jeden Morgen neu da ist – ein Segen. Gottes Segen… Mir fällt diese Liedstrophe beim Evangelium ein, weil ich sie als ein Samenkorn empfinde. Nach jahrelangem Ruhen ist es dabei aufzugehen. Und ich denke mir, in uns Menschen ruht so manches Hineingesäte, das ein großes Potential hat und irgendwann vielleicht doch noch aufgeht: Worte, Zeilen, Gesten, die erst viel später im Leben ihre ganze Kraft, ihre Bedeutung entfalten.
Nicht reich gesegnete Menschen?
Dennoch kehre ich nochmal zu meiner Ausgangsfrage zurück: Ist die Saat immer gut – oder immer rein? Ich schätze diese Liedstrophe von Paul Gerhardt nicht nur, sie macht mich auch kleinlaut und fragend. Wie empfinden sie Menschen, die ihre Sinne nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt noch brauchen können – oder überhaupt von Anfang an nur eingeschränkt brauchen konnten? „Das haben wir zu danken seinem Segen.“ – Passt das? Schweigt man dann, wenn andere dieses Zeilen singen? Tut das weh? – Ich glaube: Ja. Auf einmal sind wir mittendrin in den Fragen, warum alles so ist, wie es ist: mit von der Natur reich gesegneten Menschen – denn diese Liedstrophe setzt beim genauen Hinsehen Natur mit Gott gleich – und von der Natur weniger reich gesegneten Menschen. Ist GOTT so? Oder sind es eher unsere Interpretationen im Reden und Singen?
Menschen nicht zurücklassen
Das mit der Liedstrophe ausgesäte Korn ist für mich noch nicht reif, noch längst nicht ausgewachsen. Vielleicht bleibt es so und wird irgendwann eingehen. Dieses Gleichnis meint sogar, noch nicht einmal jedes Samenkorn kommt zum Keimen, manches findet keinen Grund, manches wird erstickt und nur ein Teil bringt Frucht – und auch das noch mit Einschränkung. Möglicherweise ist es sogar gut, wenn manches Korn nicht aufgeht… Wer weiß. Von Gott reden, Gott bezeugen, Gottes Wirken deuten finde ich herausfordernd. Wie kann diese Rede, wie kann dieses Zeugnis, wie kann dieses Deuten so sein, dass es Menschen nicht zurücklässt? Sind nicht lange genug Menschen von einer gewissen Auslegung des christlichen Glaubens zurückgelassen worden, insbesondere – entgegen dem Evangelium – “schwache Menschen”? Kranke, wenn es hieß: wofür mögen sie wohl bestraft sein? Frauen als das vermeintlich schwächere Geschlecht, wenn ihnen eigentlich bis heute die Predigt in der Messfeier untersagt ist? Queere Menschen, wenn ihre Liebe noch nicht mal einen Segen verdient? Das Evangelium meint, wirklich fruchtbar sind die Samenkörner, die nicht nur einen satt machen, sondern möglichst viele. Alle. Unterschiedslos.
Bernd Mönkebüscher | Mt 13, 1-9