Alles verschenken, seine Wohnung aufgeben und sich auf das Notwendigste reduzieren? Erst einmal in einem 10 qm² Wohnmobil unterkommen? 11,98 qm² misst ein Haftraum. Hans-Gerd Paus, Gefängnisseelsorger in der JVA Geldern, macht es wahr: Er beginnt sein Hausstand aufzulösen, indem er lieb gewonnenes verschenkt. Grund: Er wird in 2 Jahren pensioniert oder vielmehr 9 Jahre vor dem regulären Zeitpunkt emeritiert. Paus will am Nordkapp startend 12.000 km unter die Füße nehmen. Vom Nordkapp nach Sizilien und von Istanbul nach Santiago de Compostela. Noch lange hin mag mancher denken, doch er beginnt bereits jetzt loszulassen.
Täglich laufe ich durch die Wohnung und betrachte Dinge, mit der Frage im Kopf: brauchst du es definitiv in den kommenden zwei Jahren? Wenn ich bejahe stelle ich es zurück. Wenn ich “nein” sage, frage ich mich: was bedeutet es mir? Wenn ich sehr daran hänge, gebe ich es weg. Mein Kaffeevollautomat fiel immer in die Kategorie “ich brauch’ s noch” und war zufrieden, denn ich wusste auch, dass ich sehr daran hänge. Ich liebe morgens diesen Kaffee. Gestern, um 13.15 Uhr gab er plötzlich seinen Geist auf. Nichts ging mehr.
Fügung? Göttliche Exerzitien? Zufall? Keine Ahnung. Aber ich spüre gerade dem neuen Gefühl nach nicht immer selber entscheiden zu können wovon ich mich trenne. Verbunden mit einem kurzen Anflug von Panik, da ich es nicht mehr in der Hand habe, wovon ich mich trenne. Das Hochgefühl der letzten Tage blieb jedenfalls aus. Dabei ist es nur ein blöder Kaffeeautomat. Ein Kaffeeautomat hat die Kraft, mich wanken zu lassen. Ich fühle mich ertappt.
Loslassen zum Beispiel
Seitdem ich weiß, dass ich in ca. 2 ½ Jahren auf dem Pilgerweg sein darf und ich meine Zelte in Geldern abbreche, geht mir ein Wunsch durch den Kopf: Mit leichtem Gepäck! Dabei denke ich nicht nur an den Rucksack, der mich fast zwei Jahre begleiten wird. Sondern auch an den neuen Lebensabschnitt, den ich damit beginne. Und dieser Lebensabschnitt endet nicht zwangsläufig mit meiner Pilgertour durch Europa.
Silbermond hat da ein super Lied rausgebracht. Ich finde mich zu 100 % darin wieder. Ich möchte mich kleiner setzen, viel kleiner. Meinen Besitz auf das Wesentliche beschränken. Meine Wohnung werde ich aufgeben. Geplant ist zum jetzigen Zeitpunkt mich in Sendenhorst anzumelden. Das ist in der Nähe von Münster und nahe bei Bekannten, mit denen ich über dreißig Jahre befreundet bin.
Ich beabsichtige keine neue Wohnung zu suchen. Ich werde mein Dach über dem Kopf in meinem Wohnmobil finden, das in Sendenhorst stehen soll. 10 qm², mehr habe ich dann nicht und brauche ich auch nicht. Mein jetziger Hausstand passt da nicht rein. Ich möchte ihn loswerden. Um mich selber daran zu gewöhnen (ich habe diesen Schritt gut überlegt) fange ich langsam an. Deko und so… Aber zuallererst gilt: ich will es verschenken. Mit leichtem Gepäck!
Schwanger gehen
Der etwas andere Adventkalender. Meine schwangere Maria. Etwa 35 cm hoch. Von einem Künstler gestaltet verdeutlicht sie mir sehr anschaulich: Dass gut Ding Weile braucht. Das Leben erwartet wird. Das Gott sich um die Zukunft sorgt. Sie war 30 Jahre lang für mich ein Muss in der Adventzeit.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.
Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.
Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
geht es um dich oder ihn.
Den eigenen Schatten nimm
zum Weggefährten.
Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
unter dem Dach im Einstweilen.
Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im großen Plan.
Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten.
Mascha Kaléko
Von Schnee gepredigt?
Wenn ich früher durch die Berge lief, ganz weit oben und ich vor lauter Durst eine Hand voll Schnee in den Mund steckte, dann spürte ich schnell, dass der Schnee den Durst nicht löschte. Weiter unten trank ich Quellwasser, das löscht sehr wohl den Durst. Lange konnte ich mir das nicht erklären, bis ich las, der Schnee enthält nicht die Mineralien, die der Mensch braucht. Erst, wenn das Wasser durch das Erdreich geflossen ist und sich angereichert hat, mit dem, was die Erde gab, konnte es den Durst löschen.
Ich hatte damals ein Aha-Erlebnis. So ähnlich – dachte ich mir – muss es auch mit dem Wort Gottes sein. Der reine Buchstabe des Wortes Gottes löscht nicht den Durst. Es löscht erst dann den Durst, wenn es durch einen Menschen geflossen ist, der es mit seinem Leben angereichert hat. Wie oft habe ich Schnee gepredigt? Ich hätte besser einfach den Mund halten sollen.
Die dunkle Nacht weihen?
Manchmal fühlt sich das Leben an, als würde man von Verlust zu Verlust geschleudert. Wenn da plötzlich eine Krankheit nicht nur vor der Tür steht, sondern sich richtig breit macht in der eigenen Wohnung, dem Körper. Oder wenn da plötzlich ein Mensch – ein Freund – so schwer erkrankt, dass ich mich scheue noch Pläne mit ihm zu machen. Von Verlust zu Verlust geschleudert, blindlings, ganz unbegreiflich… Und wenn dann die Sehnsucht wächst einen Zusammenhang zu erkennen ein klares Gesetz, den guten Plan erkennen, dass Gnade ist, was als Verlust scheint. Wirklich Advent des Lebens. Ob es eine Weih-Nacht gibt? Etwas, das die dunkle Nacht weiht? Ich glaube fest daran.
Morgens bin ich ein Esel
Im Normalfall beginnt morgens um fünf mein Tag. Still und gesammelt, er verspricht viel. Dieses Versprechen bricht er in aller Regel, und doch vertraue ich ihm. Morgens in der Früh bin ich ein Esel. Dieser noch leere Blick, der Blick eines erwachsenen Esels, der nichts mehr weiß von gestern und noch nichts von heute, der die Last und die Schläge vom Vortag vergessen hat und stumm bereit ist für das was kommen wird. Neuanfang. Jeden Tag. Darum liebe ich diese frühe Zeit.
Es tut gut zu wissen, dass jeder Recht hat in den Gesprächen mit sich selbst. Ich schloffe in den Tag. Ich empfinde es auch als schön älter zu werden. Erlöst von der gewaltigen Anstrengung, “etwas zu werden“, etwas darstellen zu müssen in dieser Welt. Einfach sich gelassen einfügen dürfen und man selber zu sein. Weiter nichts als einer von 7 ½ Milliarden.
Negativform: Wer will ich sein?
Ein Künstler (hier Kleinhans), der eine Bronzefigur gießen möchte muss zunächst eine Gussform herstellen. Quasi ein Negativ vom zu gießenden Positiv. Kleinhans, den ich zu seinen Lebzeiten kannte und dessen Plastiken in vielen Städten zu sehen sind, lud mich eines Tages in sein Büro ein. Er goss eine Marienfigur. Ich bat ihn, die Negativform nach getaner Arbeit vorsichtig abzunehmen. So erhielt ich die Negativform des Gesichtes der Maria.
Diese Darstellung war für mich immer das beste Sinnbild für Maria. Sie muss sich zurücknehmen, damit das Positiv – Jesus – zur Geltung kommt. Mir stellte sich in den vergangenen Jahrzehnten die Frage, ob ich mich genug zurücknehme, damit Jesus sichtbar wird. Eine Antwort habe ich nie gefunden. Dieser Gipsklumpen bedeutet mir wirklich sehr viel. Leicht fällt mir das Abgeben nicht. Aber gerade deshalb muss er in liebende Hände abgegeben werden. Mir bedeutet es mehr als die Bronzefigur, die in irgendeiner Stadt steht. Die Negativform ist immer Vergegenwärtigung der Frage: wer will ich sein? Wem will ich Gestalt geben in meinem Leben? Büro ist nicht der richtige Ausdruck, es war sein Atelier.
Wie ein Elefant durchs Leben?
Manchmal, wenn ich mich auf eine Predigt vorbereite und ich meine Überlegungen mit in den Schlaf nehme, dann passiert es, dass ich in der Phase zwischen Wachheit und Schlaf wunderbare Formulierungen finde. Das eine Idee sich Raum verschafft und ich die Gewissheit habe, das ist richtig, das ist die Wahrheit, das ist die ultimative Idee. Wenn ich dann tagdrauf im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte diese Idee aufs Papier bringen will, stelle ich fest, sie lässt sich nicht so in Worte fassen, so, dass sie mit gleicher Kraft daherkommt, wie sie mir noch im Halbschlaf entgegen trat. Die Idee geht ein wie ein Zitronenfalter im Zimmer, oder sie wird gar hässlich, und ein Wortungetüm ohne Zartheit. Aber es gab sie in dieser Phase der Dämmerung. Mit meinem Glauben verhält es sich oft genauso. Mal lässt er mich fliegen, um dann wieder wie ein Elefant durchs Leben zu stapfen. Und doch ist beides richtig, beides wahr, wie etwas im Leben wahr sein kann.
Fällt dir das nicht schwer, so alles wegzugeben?
Ich würde lügen, wenn ich sagte, es fiele mir immer leicht. Kelch, Kohle, schwangere Maria und Negativform waren bisher das Schwerste. Es war sogar richtig schwer. Aber ich würde es wieder tun. Letztendlich habe ich drei Gründe, jeder einzelne würde für mich ausreichen, es zu tun. Wissen möchte ich, woran mein Herz hängt. Und ich habe die Hoffnung, dass etwas übrig bleibt, was ich nicht weggeben will. Noch größer die Hoffnung, dass es nichts ist, was ich anfassen und in einen Umzugswagen packen kann. Letztendlich die Frage an mich selber: wovon lebe ich? Diese Frage reiht sich ein in die Reihe der Fragen, die mich unter Tage arbeiten ließ, die mich lange Zeit in einer Berghütte umgeben von Gletscher leben ließ, die mich drängte zwölf Monate in meinen alten Bulli zu leben.
Ich freue mich auf meine Zukunft, auf den langen Pilgerweg, auf die Zeit danach im Wohnmobil. Ich will neues erleben. Wenn ich Altes loslasse bin ich hoffentlich freier für Neues. Das Neue zieht mich so sehr, dass es leichter fällt, Altes zu lassen. Wer über 60 Jahre ist und sich nicht auch seiner Endlichkeit bewusst ist, lebt naiv. Jeden Tag kann es soweit sein, dass ich das Zeitliche segne (ein wunderschöner Ausdruck: das Zeitliche segnen).
Wenn Menschen gehen bleibt den Hinterbliebenen oft nur, den ganzen Plunder auf den Müll zu werfen. Das, was materiellen Wert hat wird noch Wert geschätzt. Aber mir liegen Dinge am Herzen, die ich nicht auf dem Müll wissen will, sondern in Händen von Menschen, die dieses Ding haben wollten. Ein schöner Gedanke, mich nicht von all dem trennen zu müssen, sondern es nur einem Freund oder einer Freundin zum Aufbewahren gegeben zu haben. Nach dem schwer verdaulichen Text gibt es heute etwas für leichte Kost: meine Kochbücher.
Sehn-Sucht
Weihnachten muss ich arbeiten. Heilig Abend und am ersten Weihnachtstag. Gut so! Nirgends habe ich Weihnachten in meinem Leben so anstrengend erlebt wie im Gefängnis. Aber nirgends habe ich die Sehnsucht stärker gespürt als bei den Menschen hinter Gittern. Irgendwie ist Weihnachten hinter den Mauer echter. Die meisten Männer hängen ihre Sehnsucht nicht an Gott. Die meisten erwarten keinen Messias. Weihnachten ist losgelöst vom Glauben an einen menschgewordenen Gott. Aber das ist außerhalb der Mauern nicht anders. Wer soll die Sehnsucht stillen? Sehnsucht nach Freiheit, nach Ende der Einsamkeit, nach Zärtlichkeit. Auch nach Vergebung der Schuld und eines echten Neuanfangs. Drinnen und draußen. Die Sehnsüchte sind nahezu gleich.
Der dritte Advent hat den Namen „Gaudete – Freut euch“ erhalten. Das klingt hinter den Mauern zynisch. Für manchen draußen auch. Nicht aber, wenn ich mich in dem Gedanken fest machen darf, dass ich wirklich noch etwas zu erwarten habe, was mir gegeben wird, allein schon deshalb, weil ich bin. Mein Gut- oder Schlechtsein hält Gott nicht davon ab, mich zu lieben. Und er wird aus den Trümmern meines Lebens mit mir noch einen Palast bauen (ich sollte mit anpacken). Das ist meine weihnachtliche Sehnsucht. Von nichts anderem spreche ich hinter Gittern.
Hans-Gerd Paus | JVA Geldern