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Lebens- und Glaubensraum. Liturgie feiern im Gefängnis

31. Oktober 2020

„Liturgie feiern und einen  Raum schaffen, in dem Himmel und Erde sich berühren können, das eigene Leben von Gott berühren zu lassen, damit Wandlung geschehen kann.“ Das gesamte kirchliche Leben scheint aus aufgrund von Corona den Fugen geraten zu sein. Fragen wurden aufgeworfen, Antworten gesucht, Kreativität entwickelt – gerade auch im Blick auf liturgische Feiern. Deren Stellenwert wurde mit einem Mal neu bedacht. „Man kann sich auch daran gewöhnen“, meinte eine bisher treue Gottesdienstbesucherin angesichts ausgefallener bzw. ins Fernsehen verlegter Gottesdienste.

Sind diese nur eine Gewohnheitssache, etwas, was sich angewöhnen und dann auch wieder abgewöhnen lässt? Etwas Gewöhnliches sozusagen? Oder ist bzw. sollte Liturgie, doch die Quelle sein, aus der sich alles weitere kirchliche Handeln entwickelt, „Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“, wie es das Zweite Vatikanische Konzil betont. Kann man sich an Gottesdienste gewöhnen und kann man sich auch daran gewöhnen, keine Gottesdienste mehr mit zu feiern – zumindest am gewohnten Ort, zu gewohnter Zeit, mit gewohnten Mitfeiernden? Was sind Motive, Beweggründe, sich auf den Weg zum Gottesdienst zu machen?

Warum kommen Gefangene in die Kirche?

Was bewegt Gefangene zum Gottesdienst zu kommen? Ist es nur die Möglichkeit andere zutreffen, ins Gespräch zu kommen, zumal wenn es keine andere Möglichkeit gibt? Oder gar Geschäfte zu machen? Ganz von der Hand abzuweisen ist dies sicher nicht. Aber seien wir ehrlich: War es früher– zumal in Dörfern – nicht so, dass der Gottesdienst nicht für fromme Übungen diente, sondern ebenso zum Gespräch, zum Austausch in den hinteren Bänken, auf der Empore oder auf der Treppe zu ihr diente. Oder dem Einkaufen nach der Heiligen Messe, der die Verkaufsmesse nicht zufällig ihren Namen verdankte. Heiliges Tun und Geschäfte standen schon immer in einem Zusammenhang. Jeder Wallfahrtsort zeugt davon, Jesu Tempelaustreibung ebenso. Die Motive Gefangener den Gottesdienst zu besuchen sind sicher ebenso vielfältig, wie die Motive – zumindest eher volkskirchlich orientierter – Gemeindemitglieder.

Die 140 Jahre alte Kirche der JVA Herford in Nordrhein-Westfalen.

Ein vernachlässigtes Thema

Wenn man auf in die Ausbildungscurricula  der GefängnisseelsorgerInnen in Deutschland und in der Schweiz schaut, fällt folgendes auf: In der von der Evangelischen Seelsorge in Deutschland angebotenen sechswöchigen Ausbildung stehen sowohl in der vierten Kurswoche („Pastorale Identität“) sowie in der sechsten Kurswoche („seelsorgerliche Konzepte“) das Thema Gottesdienst und Predigt an. Die von der Universität Bern in Kooperation mit den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (Schweiz) angebotene modulare Ausbildung mit 24 Theorietagen thematisiert Liturgie und Rituale im Rahmen eines zweitägigen Moduls Seelsorgekonzepte. Und die von der Katholischen Gefängnisseelsorge Deutschland e.V. in Kooperation mit der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland angebotene Weiter- und Fortbildung beinhaltet vier dreitägige theoretische Module, von denen eines der Liturgie im Gefängnis gewidmet ist.

Welchen Stellenwert hat der Gottesdienst, die Liturgie im Strafvollzug und in der Ausbildung zur GefängnisseelsorgerIn? Von den zwischen 1983 und 2020 gesichteten Themen von 33 Fachtagungen waren nur fünf dem Thema Liturgie gewidmet. Wenn man darüber hinaus die deutschsprachige Literatur der letzten 20 Jahre ansieht, scheint das Thema ein eher vernachlässigt zu sein. So widmen sich von seit 1995 erfassten 252 Veröffentlichungen zur Gefängnisseelsorge (nicht berücksichtigt sind Veröffentlichungen zu Schuld, Strafe, Ethik) lediglich 16 dem Thema Liturgie. Darunter auch Gottesdienstmodelle und Gebets- bzw. Textsammlungen. Nimmt man die Veröffentlichungen von 1945 bis 1995 hinzu, sieht die Gesamtlage nicht besser aus. Von ca. 900 in Rassows Bibliographie angegebenen Titeln, befassen sich lediglich 40 Einzeltitel mit dem Themenbereichen Gottesdienst, Predigt, Gebete. Diese Gesamtschau erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, ändert aber nichts an dem Gesamteindruck, dass Liturgie eher ein Randthema zu sein scheint.

Ein Alleinstellungsmerkmal

August Raming nannte vor über 20 Jahren den Gottesdienst einen „Kristallisationspunkt“, für die Inhaftierten ein „Grundrecht“, für die SeelsorgerInnen eine „Pflicht“ und zitiert einen Kollegen: „Wenn ich in der Anstalt keinen Gottesdienst feiere, was soll ich dann überhaupt in der Anstalt?“ Liturgie bildet mit dem Zeugnis (Martyrie, Verkündigung) und der Diakonie einen wesentlichen Grundvollzug von Kirche. Alle drei Elemente durchdringen einander und leben voneinander. Ohne Gottesdienst, ohne Liturgie verliert Seelsorge im Gefängnis etwas Wesentliches, ihr Profil geht verloren. Diakonie wird zu Sozialarbeit oder Sozialtechnik, Verkündigung zu einem neben anderen therapeutischen Angeboten.

Auch wenn es letztlich von den strukturellen Rahmenbedingungen und noch mehr von den in der Seelsorge Handelnden abhängt, von deren Vorlieben, Stärken und Kompetenzen in den Teilbereichen und damit unterschiedlichen Gewichtungen, ist es doch das liturgische Handeln, das von den psychologischen und sozialen Diensten im Gefängnis unterscheidet und Seelsorge profiliert. Im Gottesdienst erhält sie ihren letzten und eigentlichen Sinn. Hier öffnet sie sozusagen den „Vorhang“ und den Blick für einen größeren Zusammenhang, für das uns im Alltag eher Verborge, das „Geheimnis des Glaubens“, Gott. Ramings Plädoyer für den Gottesdienst ist zuzustimmen. Ist er doch die Möglichkeit das Unmögliche und das Unaussprechliche zeichenhaft, ohne zu viele Worte zum Ausdruck zu bringen. Orte „zum Innehalten und Nachdenken sein. Stille, Gebet und Gesang helfen dem einem oder der anderen, sich seinen Leuten draußen nahe zu fühlen“, wie Gefangene selbst sagen.

Andere Zeiten andere Orte

Liturgie ist ein anderer Raum im „AndersOrt“ Gefängnis, eine „Gegenplatzierung oder Widerlager“ – um mit Michel Foucaults Überlegungen zu „anderen Räumen“ zu sprechen. Der „andere Raum“ („Heterotopie“) führt aber auch in eine andere Zeit („Heterochronie“). Der Sonntag oder – wie anfangs und in den romanischen Sprachen immer noch benannten „Herrentag“ unterbricht den Alltag und öffnet eine andere Zeit: Denn der „Tag des Herrn“ ist – biblisch gesehen – der Tag am Ende der Zeit, an dem Gottes Herrschaft anbricht. Für die ersten Christen vermutlich der Tag des Kyrios, der dem römischen Kyrios gegenüber gestellt wird und der gerade darin auch als ein Tag der Befreiung erlebt wird. Und der Christliche Gottesdienst trägt immer dieses Element der Befreiung in sich – auch im Gefängnis, dem Ort der Unfreiheit. Hier stehen Unfreiheit und Freiheit gegenüber, Strafe (Gesetz) und Gnade.

Foucault unterscheidet zwischen Krisenheterotopien (in Urgesellschaften) und Abweichungsheterotopien (heute): In ersteren wurden früher beispielsweise Jungen und Mädchen absorbiert auf dem Weg zum Mann- oder Frausein, in letzteren beispielsweise Menschen mit normabweichendem Verhalten: Heime, Psychiatrien und natürlich Gefängnisse. Eigentlich ist das Gefängnis beides. Denn eine Straftat ist nicht nur Normabweichung, sie ist möglicherweise Folge einer unbewältigten oder falsch bewältigten Krise und führt unweigerlich (insbesondere ErsttäterInnen) in eine Krise: in eine neue und unbekannte Welt mit ihren eigenen Regeln und Automatismen, begleitet von offiziellen und inoffiziellen Übergangsriten – voller Unsicherheiten und Unabwägbarkeiten.

Ritualdesigne Begleitung und Symbolik

Eine Gerichtsverhandlung wurde vom CDU Politiker Norbert Blüm in süffisanter Weise mit einer Liturgie verglichen. Da gibt es einen feierlichen Einzug, feierliche Gewänder sowie das Sitzen und  Stehen. Da gibt es die Überstellung in die Haft mit ihren eigenen „Degradierungszeremonien“ (Harold Garfinkel) oder „Demütigungsritualen“ (Philip Zimbardo). Zum Beispiel das Duschen als „Reinigungsbad“ oder Kleidertausch als Einkleidung wie etwa im Kloster. „Man muss sich Riten und Reinigungen unterziehen.“ (Michel Foucault). Ergänzend sei an die Taufe (Reinigung und Taufkleid) als Aufnahme in die christliche Gemeinde oder an die Tonsur (früher) und Einkleidung als Aufnahme in eine Klostergemeinschaft oder an die Tonsur (früher ebenfalls) und Überreichung von Stola und Messgewand als Aufnahme in den Klerikerstand erinnern. Keine Demütigungs-, sondern Buß- und Umkehrrituale, die leider in der Geschichte der Kirche auch immer wieder als Demütigungsrituale – vor allem in Verbindung mit einem Gehorsamsgelübde – missbraucht wurden.

Lebenswenden – freiwillige oder unfreiwillige – verlangen offensichtlich schon immer nach ritueller Begleitung, was sich kulturgeschichtlich auch nachzeichnen lässt und in den letzten Jahren in der Lebenshilfeliteratur ihren Niederschlag findet („Kinder brauchen Rituale“ usw.). Unklar ist, inwiefern es unter Gefangenen selbst Aufnahmerituale gibt, wie sie etwa aus Bundeswehrkasernen bekannt sind oder waren. Rituale, „die unter die Haut gehen“, die „in die Haut gebrannt sind“ – Tattoos etwa. Auch die Begleitung von Inhaftierten braucht Rituale, das können die regelmäßigen Gottesdienste sein, aber auch solche zu besonderen Anlässen wie Inhaftierung oder Entlassung, Geburt des eigenen Kindes, die nicht begleitet werden kann, oder Sterben eines Angehörigen oder eines/r Mitinhaftierten – insbesondere nach einem Suizid.

Kirchenfenster in der JVA Herford ohne Gitter, aber dafür mit Sicherheitsglas.

Inhaftierte sehen sich existenziellen Fragen ausgesetzt und sind dabei vielfach alleingelassen, isoliert, bedrängt. Gerade und insbesondere hier sind SeelsorgerInnen gefragt, ist mehr als therapeutische Begleitung vonnöten. Menschen sind für Rituale zugänglich und sie brauchen Rituale. Selbst säkulare (und atheistische) Verbände wissen darum und suchen nach Formen über die Jugendweihe hinaus. Und die inzwischen unüberschaubar große Zahl von RitualdesignerInnen lässt dies ebenso erkennen.

Der Kirchliche Auftrag

Die deutschen Bischöfe bekräftigen in ihrem Schreiben über den „Auftrag der Kirchen im Gefängnis“ den Zusammenhang diakonischer und der liturgischer Aufgaben: „So unmittelbar und augenscheinlich das diakonische Handeln den Dienst des Gefängnisseelsorgers im Gefängnisalltag bestimmen, so wenig rückt die liturgische Dimension pastoralen Handelns an den Rand.“ Zugleich erweitern sie den Blickwinkel und stellen vier besondere Aspekte der Liturgie heraus:

  1. „Liturgisches Geschehen und insbesondere die Feier der Sakramente bilden auch Inseln ästhetischen Erlebens in der nüchternen Lebenswelt des Vollzugs.“ Statt „Inseln“ könnte man auch Gegenpol sagen.
  2. „Gottesdienste sind für viele Inhaftierte ein Höhepunkt im routinemäßigen Ablauf des Vollzuges. Hier ergibt sich die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, durchzuatmen, sich zu besinnen“, sozusagen als Gegenpol zum Lärm in der Anstalt.
  3. „Im gottesdienstlichen Geschehen wird öffentlich, was die Botschaft der Bibel für die Gefangenen und für das Selbstverständnis der Seelsorge ist: Die Gefangenen sind von Gott angenommen und eingeladen…“ und nicht abgestempelt und mit einer Nummer verbucht, möchte man hinzufügen.
  4. „Die liturgische Feier bietet die Möglichkeit, die Menschen durch Worte, Gesten und sinnfällige Zeichen auf das anzusprechen, was sie – oft unter dem Deckmantel vorgeschützter Emotionslosigkeit – heimlich in ihrer Seele bewegt.“ Das heißt doch, Liturgie solle den Gefangenen helfen, sich ihrer selbst bewusste zu werden, was bewegt ihr Innerstes, was steckt in ihrem Innersten oder theologisch ausgedrückt: Wie sieht sie Gott, wie sind sie von Gott gewollt, welche Begabungen und Charismen stecken in ihnen? Definieren sie sich selbst darüber oder über ihre Defizite und Taten, die sie von der Gerichtsverhandlung über den Vollzug und darüber hinaus immer wieder vorgehalten bekommen.

In ähnlicher Weise stellen auch die „Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland“ von 2009 den Gottesdienst (1.) als Ort der Ruhe vor, „als Oase zur Besinnung“ und (2.) also ein Ort „zur Begegnung mit Gott“, „an dem das Wissen um den Geschenkcharakter und die Unverfügbarkeit des Lebens, um Gebote und Grenzen, um Gnade und um das Geheimnis, das jedem Leben innewohnt, […] kommuniziert wird“. Und (3.) Der Gottesdienst „bietet Menschen Heimat und lässt sie zu sich selbst finden und zu dem, was ihr Herz ihnen sagt“. Das heißt auch hier geht es darum, dass Gefangene sich sehen lernen, wie sie sind und nicht allein zu wem sie gemacht werden. Und wenn (4.) nicht nur von „Worten“, sondern von „Klängen, Bildern und Symbolen“ und der besonderen Bedeutung der Kirchenmusik die Rede ist, wird auch hier die ästhetische Dimension zum Ausdruck gebracht, die wie bereits gesagt Gegenpol zum Alltagserleben in einem Gefängnis und seiner gebauten Tristesse ist. „Gottesdienste fordern auf, aus dem Gewohnten herauszutreten und nach dem Willen Gottes für das eigene Leben und für das Leben in der Gemeinschaft zu fragen und anderer Menschen fürbittend zu gedenken.“

Gottesdienst als Heimat?

„Im Gottesdienst sind sie nicht zu Hause“, antwortete vor 30 Jahren Petrus Ceelen eher skeptisch. Denn Inhaftierte wissen oft nicht einmal, ob sie getauft seien oder zu welcher Kirche sie gehörten. Das Vergalten vieler Inhaftierter im Gottesdienst – zumal, wenn sie das erste Mal da sind – mag dies bestätigen. Umgekehrt scheint Alexander Funsch in seiner Dissertation richtig zu liegen, wenn er darauf hinweist, dass manche sich auch in traditionellen liturgischen Formen – ich denke da an katholisch sozialisierte Polen oder Afrikaner – zurechtfinden und diese sogar wünschten. Sicher ist, dass gerade die Monotonie des Gefängnisses, Isolation und Einsamkeit existentielle Frage aufwerfen und Inhaftierte zumindest liturgischen Formen zugänglich machen.

Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft mögen das zwar beeinflussen, aber eine grundsätzliche Ansprechbarkeit ist da – vielleicht nicht mit Worten, sondern mit liturgischen Formen, Symbolen, Zeichen, Stille, Bildern, Musik… Könnte nicht in der Liturgie Gottes Zeichen- und Bildersprache zum Ausdruck kommen, um den religiösen Analphabetismus zu überwinden? Und es ist nicht nur ein religiöses, sondern grundsätzliche Kommunikations- und Interaktionsschwierigkeiten bei Inhaftierten, worauf Ellen Stubbe schon in den 1980ern Jahren hinwies und weshalb sie gerade auf die Bedeutung und Kraft symbolischer Handlungen hinwies. In die gleiche Richtung zielte ein 2013 erschienener Betrag von Kerstin Lammer „Ein Ritual zeigt mehr als 1000 Worte. Über die Grenzen von Gesprächen und den Wert von Ritualen“.

Der erste Gottesdienstbesuch mag aus Neugier erfolgen – zum Teil auch, weil Inhaftierte entsprechend sozialisiert sind. Aber dieser erste Besuch bietet eine Chance, den Alexander Funsch zufolge im Schnitt ca. 15 % der Gefangenen annehmen. Dem mögen unterschiedliche Motive zugrunde liegen: die Predigt, die Ruhe, den Glauben leben, die Abwechslung (nach Funsch der wichtigste), natürlich auch die Begegnung mit anderen Inhaftierten oder Tauschgeschäfte. In jedem Fall bietet der Gottesdienst eine Gelegenheit, Inhaftierte anzusprechen, Perspektiven aufzuzeigen, Hoffnungspotenziale zu vermitteln. Rituale und Symbole, Kerzen, Bilder, Musik… sind gefragt. Musik, denn „mehr als Worte sagt ein Lied“…

Dr. Simeon Reininger | JVA Meppen

 

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