Wenn die Gefängnisseelsorger zur Kapelle der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit wollen, müssen sie durch eine Haftanstalt wie aus dem Fernsehen: Lange, leere, mit Kunstlicht erleuchtete Gänge, in denen sich Stahltür an Stahltür reiht. In den oberen Stockwerken gibt es keinen durchgehenden Flurboden, nur emporenartige Gänge aus durchbrochenem Metall, sodass man alle Etagen gleichzeitig im Blick haben kann. Der Hall der Schritte ist das einzige, was hier laut ist. Das Lichtkreuz und das Projekt „Harfe und Stimme“ durchbrechen im ökumenischen Gottesdienst den Alltag der Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit.
Die Ankunft an der Kapelle im Zentrum des sternförmig angelegten Gebäudekomplexes ist fast eine Erlösung: Sie hat eine Holztür. Der Raum dahinter ist seit dem Betreten der Haftanstalt der erste, der wenigstens ein bisschen schön ist. Hell ist die Kapelle, ihr Grundriss einer Jakobsmuschel nachempfunden. Vier Männer üben Adventslieder: der Projektchor. Durch die drei großen Fenster an der geraden Stirnseite, hinter dem Altar, scheint Tageslicht. Ihre Vergitterung erinnert daran, dass hier immer noch Gefängnis ist.
Der Ökumenische Gottesdienst zum ersten Advent hat zwei Besonderheiten. Zum einen können die 90 Inhaftierten, die Platz in der Kapelle finden, zum ersten Mal das Lichtkreuz hinter dem Altar sehen. Zum anderen begrüßt der evangelische Gefängnispfarrer Thomas- Dietrich Lehmann die Harfistin Natalie Ingwersen. Sie und 18 Gefangene präsentieren heute die Ergebnisse des Projekts „Harfe und Gesang“, das sie hier in der letzten Woche durchgeführt haben. Gleich zu Beginn des Gottesdienstes entlockt Ingwersen ihrem Instrument sphärische Klänge.
Leben wandelt sich
Nun ist wieder die Harfe dran: Natalie Ingwersen streicht die Saiten, während vier Gefangene mit Perkussions-Instrumenten einen Klangteppich von Meeresrauschen und Regenprasseln in die Gefängniskapelle holen. Als Ingwersen leise zu singen beginnt, klingt es ein bisschen wie eine Entspannungs- CD. Nach dem Stück applaudieren die Zuhörer kräftig. Später singen die Projektteilnehmer ein Meditationslied. Die Männer werden ruhiger, denn bisher haben sie miteinander gesprochen. Ist doch Gefängnisgottesdienst auch immer ein Treffpunkt für die Menschen, die sonst viel Zeit allein in kleinen Hafträumen zubringen. Beim Lauschen betrachten viele das zwei mal zwei Meter große Kreuz aus Plexiglas, das blau, grün und violett schillert. Auch in ihm brechen sich die Gitterstäbe. Es ist das Kreuz, das in der Fastenzeit in der St. Hedwigs-Kathedrale hing und seitdem in verschiedenen Kirchen des Erzbistums Berlin zu Gast war. Die JVA ist seine zehnte Station, und es bleibt über die Weihnachtstage. In seiner Einführung lädt der katholische Diakon Wolfgang Kamp die Gottesdienstbesucher ein, zu sehen: „So wie sich dieses Kunstobjekt je nach Lichteinfall wandelt, wandelt sich auch unser Leben.“ Dieses Kreuz, das wird im Gefängnis noch deutlicher als anderswo, ist Schmerzenssymbol und Hoffnungszeichen in einem.
Gefangenen die Entlassung verkünden?
Nun liest Pastoralreferentin Stephanie Kersten aus dem Lukasevangelium von Jesus, der in in der Synagoge von Nazareth aus dem Propheten Jesaja liest. An der Stelle „Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen Entlassung verkünde und den Blinden Augenlicht“, fangen die Männer an zu tuscheln. Pfarrer Lehmann sagt in seiner Predigt, viele würden sicher jetzt fragen: „Meint der Pfarrer, dass wir auf Anweisung der Anstaltsleitung nach dem Gottesdienst das Haus verlassen?“ Nein, antwortet er selbst, es gehe um die Befreiung von allem, was das Menschenherz belastet, „von den Dämonen, die mich binden“. Das gelte für jeden Menschen auf dem Globus. Nach Vaterunser und Segen singt die Gemeinde „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“. Dann übergeben die Seelsorger das Haus- und Vollzugsrecht den Beamten, die hinten warten. Die Inhaftierten werden abgeführt. Bis zum nächsten Gottesdienst.
Cornelia Kläbe | Titelbild: Walter Wetzler