Wenn ich an meine Gottesdienste im Gefängnis denke, gerate ich schnell in ein Wechselbad von Empfindungen: Da bin ich bei den inhaftierten Frauen und gehe in den Gottesdienst mit einem Gefühl von Vertrautheit. Ich freue mich drauf, mit ihnen Gottesdienst zu feiern, das Leben zu bedenken, es in das Licht der Botschaft Gottes zu stellen und Kraft und Hoffnung zu schöpfen. Ich freue mich auf diese Gemeinschaft in aller Unterschiedlichkeit. Es ist eine Herausforderung durch die Mauer der Offensichtlichkeiten hindurch die Menschen zu erreichen.
Bis auf die ganz Neuen kenne ich alle, viele kenne ich sehr gut und wenn ich bete oder rede und die Frauen anschaue, dann ahne ich, wovon ich rede, dann sehe ich konkrete Lebensgeschichten oder aktuelle Situationen vor mir. Schon bei der Vorbereitung sehe ich bestimmte Menschen und was ich formuliere, scheine ich ihnen persönlich zu sagen. Das Evangelium wird greifbar, bekommt Gestalt, wird vor meinen Augen lebendig. Und Gottes Wort versuche ich genau in dieses Leben hinein zu sagen. Klar, die Motive sind unterschiedlich, in den Gottesdienst zu kommen. Es gibt die, die Kraft schöpfen im gemeinsamen Gebet, die Bestärkung suchen im Gottesdienst. Aber auch die, die noch ganz unbestimmt auf der Suche sind oder die, die einfach eine Abwechslung suchen oder sich auf die Tasse Kaffee freuen.
Zwischen gläubigen Menschen und Abwechslungssucher
Und trotz dieser unterschiedlichen Gründe in den Gottesdienst zu kommen, erlebe ich Gemeinschaft, Nachdenklichkeit und Freude an dieser dreiviertel Stunde. Vor Wochen habe ich einen Brief bekommen von einer lnhaftierten, mit der ich keine intensiven Gespräche hatte. Ab und zu sind wir uns begegnet und haben dann mal über Aktuelles gesprochen. Dieser Brief hat mich berührt und vielleicht macht er deutlich, was sich in der Zone zwischen gläubigen Menschen und Abwechslungssucher so tut. “Ich muss ihnen gestehen, dass ich nicht an Gott glaube… Nur ich habe mein Leben in der Hand, nicht andere und wohl auch nicht Gott. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen habe ich ihre Gottesdienste sehr genossen. Ich bin nicht wegen Gott gekommen, sondern weil ich die Zwischenmenschlichkeit, Anregungen und Denkanstöße, Kraft und eine Richtung für nach der Haft suchte. Wenn ich ehrlich bin, der Kaffee war recht gut. Dafür möchte ich Ihnen und auch der höheren Macht, die uns lenkt, danken, mag man sie nennen wie man will”, so der Briefauszug.
Durch Mauern der Offensichtlichkeiten
So geht es mir bei den Frauen. Und dann denke ich an meine Männer und spontan stockt ein kleines bisschen der Atem. Wie wird es heute wieder werden? Unruhig? Viel Gequassel von der Russenfraktion? Muss ich wieder drohen oder geht es auch ohne? Mein Blick geht zu den Gesichtern, die ich kenne. Und das flaue Gefühl verschwindet allmählich und weicht mit einer gewissen Entspannung und Erleichterung. Mit denen, die da sitzen, möchte ich Gottesdienst feiern. Die, die ich kenne, die ich vor mir sehe bei der Vorbereitung des Gottesdienstes, die sind meine Gemeinde. Für sie und mit ihnen feiere ich und ich hoffe, dass die anderen mit aufspringen. Es ist eine Herausforderung durch die Mauer der Offensichtlichkeiten hindurch die Menschen zu erreichen. Vielleicht bleibt ja ein Gedanke, ein Wort, ein Satz hängen und begleitet sie durch den Tag. Und wer weiß schon, was sich hinter der coolen Fassade abspielt. Ich hätte nie gedacht, dass die Männer Gregorianische Choräle lieben und bei Panflötenmusik still und besinnlich werden!
Die Landebahn nicht verstopfen
Vieles ist für mich immer wieder überraschend und unberechenbar und ich habe das Gefühl, dass der Geist Gottes wirkt wo er will und meine Aufgabe es ist, die Landebahn nicht zu verstopfen. Es ist eine Herausforderung, die richtige Sprache zu finden, die richtigen Bilder zu benutzen und die passenden „Übersetzungshilfen” zu gebrauchen. Jeder Gottesdienst ist eine Gabe, mal hart erarbeitet, mal einfach geschenkt. Und für mich ist diese Art Gottesdienst zu feiern mit Katholiken und Protestanten, mit Moslems und Orthodoxen, mit Jesiden und Atheisten meine geistliche Heimat geworden. Bodenständig und lebendig, umfassend und versöhnlich. Auch wenn mir manchmal dabei der Schweiß auf der Stirn steht.
Jutta Johannwerner | Ehemalige Seelsorgerin, JVA Hildesheim