Mit der dieser Dokumentation zugrundeliegenden Tagung befasst sich die „Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden“ ein weiteres Mal mit (totalen) Institutionen anhaftenden „tatbegünstigende(n) Strukturen“, die „Gewalt und Zwang“ begünstigen können. Nicht zuletzt die Missbrauchsdebatte, die in der hier vorliegenden Dokumentation einen sehr breiten Raum einnimmt, zwingt diese Debatte auf.
Dabei wird insbesondere (aber nicht nur) auf die Odenwaldschule (101-136) und auf die Regensburger Domspatzen (207-236) geschaut. Wie kann es sein, dass eine der Reformpädagogik oder christlichen Werten verpflichtete Einrichtung derartige Verbrechen begünstigen kann? In diesen wie auch in anderen Fällen ist es neben der vorfindlichen Vertrauensstruktur der enge, hierarchische („Über- und Unterordnungsverhältnis“) und alle Lebensbereiches regelnde Rahmen, der wohl einen Nährboden für Zwang und Gewalt bildet.
Dies betrifft auch Polizei, Justizvollzug und Psychiatrie, die hierfür nicht weniger anfällig sind. Im Bereich Justizvollzug richtet sich der Blick vor allem auf Gewalt von Inhaftierten untereinander. Diese scheint nicht nur in der Persönlichkeitsstruktur der Inhaftierten, sondern ebenso in der Gefängnisstruktur begründet zu sein. Beides wird thematisiert („Importationstheorie“ versus „Deprivationstheorie“). Beide „haben einen signifikanten Einfluss auf das Risiko einer physischen Viktimisierung im Vollzug“ (60). Strukturelle Gewaltanwendung wird mit der Deprivationstheorie zwar angesprochen, aber nicht weiter thematisiert. Direkte Gewaltanwendung und Zwangsmaßnahmen werden hier hingegen ganz ausgeblendet. – Vielleicht im Blick auf die zuvor stattgefundene Tagung zu „Zwang und Gewalt“. Das ist schade.
Dagegen wird das Problem (struktureller) Gewaltanwendung ausführlich im Kontext der Polizei sehr differenziert diskutiert (27-46). Wie die Kirche ist auch sie „eine hochmoralische Organisation“, deren Aufgabe es sei „das Gute […] zu erzeugen bzw. zu verteidigen“ (29). Der Auftrag der Polizei ist „Staatsgewalt (potestas)“ und nicht „unbotmäßige(n) Individualgewalt (violentia)“ auszuüben. „Potestas“ muss aber erlernt und domestiziert werden“, „ohne Parteilichkeit und ohne Zorn“. „Sie heißt dort auch nicht Gewalt, sondern ‚unmittelbarer Zwang‘“. „Doch auf er Handlungsebene kommt Gewalt nicht ohne Aggressivität aus.“ Und deshalb wird darin auch zu Recht eine Gefahr erkannt. „Wird [aber; SR] die Gewaltausübung habitualisert und zu einem Teil der eigenen Identitätskonstruktion, dann werden Polizisten in einem Konflikt Teil des Problems und sind nicht mehr Teil der Lösung.“ (32-33) Diese Erkenntnisse lassen sich durchaus auf den Justizvollzug übertragen. Denn auch hier kommt es immer wieder bei Einsätzen zu diesem „unmittelbaren Zwang“, zu Ausübung von „Potestas“, und auch hier muss sie eingeübt und behutsam eingesetzt werden.
Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der Situation in der Psychiatrie: „Zwang als Ultima Ratio in der Psychiatrie – vermeidbar oder alternativlos“. (71-87) Er enthält durchaus einen Bezug zum Justizvollzug, insofern als immer mehr Inhaftierte psychisch belastet und auffällig sind und nicht selten den Einsatz von Gewalt zu erzwingen scheinen. „Scheinen“ deshalb, weil der aktuelle Forschungsstand nämlich Zweifel aufkommen lässt – und dies ist auch auf den Justizvollzug übertragbar – , „ob die Praxis der rechtlichen Vorgabe von Zwang als Ultima Ratio immer stand hält“ (81). Häufig ist vorausgegangene unprofessionell geführte oder missglückte Kommunikation (vgl. 82) Ursache von Zwischenfällen, die bei einer entsprechenden Gefängniskultur vermeidbar wären. – Ein lesenswerter Tagungsband für alle im Strafvollzug Tätigen.
Dr. Simeon Reininger | JVA Meppen