Welche Vorstellungen haben Gefangene vom kommunikativen Kosmos im Gefängnis? Was denken Gefängnisinsassen über die Kommunikation mit den Mithäftlingen, Vollzugsbeamten, Seelsorgern und Psychologen sowie der Außenwelt? Was bedeutet es für einen Menschen, inhaftiert zu sein? Die meisten Menschen haben davon vermutlich keine Ahnung oder denken an das, was sie aus Fernsehserien oder Spielfilmen kennen.
Die Kommunikations– und Medienwissenschaft interessiert sich nicht für den Justiz- bzw. Strafvollzug – auch wenn es ein paar wenige Untersuchungen zur Mediennutzung von Gefangenen gibt, die aber meist nur danach fragen, was Fernsehen, Radio, Bücher usw. im Haftalltag für die Gefangenen bedeuten. Uns interessierte dagegen in einem ganz grundsätzlichenSinne, was Gefangene über ihre Kommunikation mit anderen Inhaftierten, mit Vollzugsbeamten, Seelsorgern und Psychologen, aber auch mit der Außenwelt, also mit ihrer Familie und ihren Verwandten und Freunden denken.
Sozialwissenschaftliche Typen von Gefangenen
Um etwas über die Vorstellungen von diesem kommunikativen Kosmos unter Gefangenen zu erfahren, haben wir ausführliche Gespräche mit 17 Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt Heimsheim in Baden-Württemberg geführt, in der ausschließlich Männer inhaftiert sind. Ohne in methodische Details zu gehen, haben wir aus den Gesprächen mit den 17 Heimsheimer Gefangenen mehrere sozialwissenschaftliche Typen extrahiert. Einfacher gesagt: Wir können sagen, welche prinzipiellen Sichtweisen über den kommunikativen Kosmos hinter Gittern es unter Gefangenen gibt. Wir können aber keine Aussagen wie „Drei Viertel der Gefangenen finden, dass …“ oder „Der Gefangene X denkt über die Kommunikation mit dem Vollzugsbeamten Y, dass …“ treffen. Und die Frage, ob unsere Erkenntnisse über den baden-württembergischen Vollzug hinausreichen, können diejenigen, die mit dem Strafvollzug anderer Bundesländer vertraut sind, besser beantworten.
Bei den Vorstellungen der Gefangenen vom kommunikativen Verhältnis zu den Mitinsassen konnten wir drei Typen identifizieren: Der Typus des selektiv Befreundeten ist ein Gefangener, der nur mit wenigen Insassen spricht, die er dann aber als Freunde betrachtet. Die Gespräche mit ihnen sind ihm wichtig und können sich auch um sehr Persönliches drehen. Der Typus des sich abgrenzenden Bekannten spricht ebenfalls nur mit ausgewählten Mitgefangenen. Er betrachtet sie aber höchstens als Bekannte. Andere Gefangene wertet er z. B. wegen ihres schlechten Charakters oder ihrer geringen Bildung ab. Der Typus des Distanzierten kommt mit anderen Gefangenen natürlich ebenfalls in Kontakt, etwa bei der Arbeit. Er vermeidet aber jedes tiefergehende Gespräch und geht klar auf Distanz. Mit den Subkulturen unter Gefangenen will er nichts zu tun haben.
Die Typen, die wir aus den Gesprächen mit den 17 Gefangenen extrahiert haben, sind nichts anderes als wissenschaftliche „Schubladen“, in die sich irgendein konkreter Gefangener mit seiner individuellen Sicht auf den kommunikativen Kosmos im Gefängnis einordnen lässt. Mancher Gefangene mag sich einem Typus eindeutiger zuordnen lassen. Ein anderer mag teilweise dem einen, teilweise dem anderen Typus ähneln.Vergleichbares betrifft die weiteren Typologien, die ich vorstellen werde. Allerdings muss ich betonen, dass ich unsere Befunde hier verkürzt und zugespitzt wiedergeben muss.
Differenzierter, Strategischer, Distanzierter und Kritischer
Wie sieht es mit den Vorstellungen der Gefangenen vom kommunikativen Verhältnis zu den Vollzugsbeamten aus? Der erste Typus, den wir hier identifizierten, differenziert zwischen Vollzugsbeamten, mit denen er auch einmal über Persönliches spricht und die eine Bezugsperson für ihn darstellen, sowie Beamten, mit denen er schlechter auskommt und denen er weniger vertraut. Daher nennen wir diesen Typus den Differenzierenden.
Auf ähnliche Weise unterteilt der Typus des Strategischen die Vollzugsbeamten. Allerdings spricht er mit ihnen nur aus strategischen Gründen – etwa um sich mit ihnen gut zu stellen oder Informationen zu erhalten. Solche Gespräche drehen sich daher meist um den Gefängnisalltag. Der Distanzierte ähnelt teilweise dem ersten, teilweise dem zweiten Typus. Auffallend ist aber vor allem das aus seiner Sicht sehr unpersönliche Verhältnis zwischen Vollzugspersonal und Gefangenen. Der Typus des Kritischen unterscheidet sich deutlich, weil er mit den Vollzugsbeamten selten und dann höchstens über Belangloses spricht. Vor allem beklagt er sich über angeblich inkompetente Beamte, die ihn überhaupt nicht unterstützen würden. Die Gründe für diese stark ablehnende Haltung können nur im Einzelfall geklärt werden. Bei manchen Gefangenen mag eine antisoziale Persönlichkeit oder Männlichkeitsgebahren ausschlaggebend sein. Andere Inhaftierte hatten möglicherweise eine aus ihrer Sicht schlechte Erfahrung mit einem Vollzugsbeamten.
Beichtender, Betreuter, Vertrauender und Verweigerer
Gerade für Resozialisierungsbemühungen dürfte aufschlussreich sein, was die befragten Gefangenen über ihr kommunikatives Verhältnis zu Gefängnisseelsorgern und Psychologen sagten. Der erste Typus, den wir identifizierten, nennen wir den Beichtenden. Denn er hat ein mehr oder minder vertrauensvolles Verhältnis zu den Seelsorgern, mit denen er z. B. familiäre Sorgen teilt. Er öffnet sich also den Geistlichen und fühlt sich von ihnen unterstützt. Das psychologische Personal kritisiert er dagegen sehr deutlich. Ob dahinter eine Ablehnung von Therapieauflagen steckt, die der Vollzugsplan vorsieht, lässt sich nur im Einzelfall klären. Der Typus des Betreuten ist das Pendant zum Beichtenden. Denn er sucht keinen Kontakt zu Seelsorgern, steht aber in einer Therapiebeziehung zu Gefängnispsychologen. Mit ihnen spricht er über Probleme und Persönliches im Rahmen von Therapiesitzungen. Damit korrespondiert auch, dass er sie nicht kritisiert – ganz im Gegensatz zum Beichtenden. Der Typus des Vertrauenden öffnet sich sowohl den Seelsorgernals auch dem psychologischen Personal. Den vierten Typus nennen wir den Verweigerer. Denn er hat kein besonderes kommunikatives Verhältnis zu Seelsorgern und verweigert sich auch den Psychologen, die er kritisiert oder ablehnt.
Kommunikation mit der Außenwelt
Die Kommunikation mit anderen Inhaftierten, mit dem Vollzugspersonal und mit Seelsorgern und Psychologen betrifft die Lebenswelt der Gefangenen hinter Gittern. Die eigene Familie, die Eltern und Geschwister sowie Verwandte und Freunde bilden das, was wir Außenwelt nennen. Wie sehen die Gefangenen die Kommunikation mit dieser Außenwelt? Den ersten Typus, den wir hier erkennen konnten, nennen wir den kommunikationshungrigen Familienmenschen. Er wird durch die eigene Familie und die Herkunftsfamilie aufgefangen. Besuche und Telefonate sind daher sehr wichtig für ihn. Zudem steht er in regelmäßigem Briefwechsel mit der Außenwelt. Vor allem die Besuche bauen ihn auf, denn sie erlauben Nähe, wirken aber auch belastend nach, weil in der knappen Zeit „des Zusammenseins nicht alle Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Zuwendung und Gespräch befriedigt werden können“, wie es Johannes Sandmann und Nicole Knapp in einem Aufsatz zur Familienorientierung im Strafvollzug formulieren.
Der kommunikationshungrige Familienmensch hat ein ausgeprägtes Kommunikationsbedürfnis und schöpft alle dafür verfügbaren Möglichkeiten aus. Er wünscht sich jedoch öftere und längere Besuche sowie geringere Telefonkosten, will aber auch z. B. Familienfotos online ansehen zu können. Der Typus des kommunikationshungrigen Familienmitglieds ähnelt stark dem kommunikationshungrigen Familienmenschen. Allerdings hat er keine eigene Familie gegründet, sondern ist in seine Herkunftsfamilie eingebettet. Die zentralen Bezugspersonen in der Außenwelt sind somit Eltern oder Geschwister. Enge Familienkontakte, wie sie bei diesen beiden Typen erkennbar werden, erleichtern die Wiedereingliederung in die Familie nach der Inhaftierung und reduzieren die Rückfallgefahr, wie Johannes Sandmann und Nicole Knapp betonen.
Sie fordern daher nicht nur modernere Kommunikationsmöglichkeiten für Gefängnisinsassen, sondern auch mehr familientherapeutische Angebote. Der Typus deskommunizierenden Bekannten hat vorrangig Kontakt zu Freunden oder Bekannten. Warum keine Familienkontakte bestehen, kann nur der Einzelfall zeigen. Vielleicht brachen solche Kontakte durch die Stratftat oder Inhaftierung ab oder die Eltern und Geschwister leben nicht mehr. Den vierten Typus nennen wir den Isolierten, weil er keine Kontakte außerhalb des Gefängnisses hat, wobei die Hintergründe nur im konkreten Fall zu klären sind. Diese Kontaktarmut muss einer Resozialisierung keineswegs zwingend im Wege stehen. Aber im Gegensatz zu den beiden ersten Typen fehlt doch ein wichtiger rückfallpräventiver Faktor.
Als Außenstehende, die mit dem Justiz- bzw. Strafvollzug und vor alllem mit der Vollzugspraxis nicht vertraut sind, sind wir nicht so vermessen, denjenigen Ratschläge zu erteilen, die täglich mit Gefängnisinsassen zu tun haben. Letztlich ist wohl immer auch der einzelne Gefangene mit seiner spezifischen Persönlichkeit, seinem jeweiligen devianten Hintergrund, seinen spezifischen Kontakten zur Außenwelt oder seiner individuellen Entwicklung während der Inhaftierung in den Blick zu nehmen.
Zumindest aber hoffen wir, dass unsere Typen eine kleine Hilfestellung im kommunikativen Umgang mit Gefangenen geben können. Dass wir ausgerechnet die Sichtweisen der Gefangenen untersucht haben, nicht aber die Sichtweisen der Menschen, die in der Vollzugspraxis arbeiten, mag man kritisieren. Mit Howard Becker lässt sich aber in der Forschung nie vermeiden, eine Seite zu fokussieren. Darüber hinaus ignorieren wir weder den Rechtsstaat noch vergessen wir die Opfer und Geschädigten von Straftaten. In den Gesprächen mit den befragten Gefängnisinsassen haben wir – im Sinne von Martin Bubers dialogischem Prinzip – versucht, den Menschen zu sehen. Und ohne eine Diskussion über Strafzwecke eröffnen zu wollen, dürfte Konsens darüber bestehen, dass es neben der Bestrafung oder Abschreckung am Ende immer auch um Resozialisierung gehen muss. Vielleicht können unsere Typen ein kleines Puzzlestück dabei sein.
Prof. Dr. Bertram Scheufele ist seit 2010 als Leiter des Fachgebiets für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Medienpolitik an der baden-württembergischen Universität Hohenheim tätig. Seit September 2012 leitet er das Institut für Kommunikationswissenschaft als Geschäftsführender Direktor. Zum Forscherteam gehören Gerrit Hummel, Arietta Jost, Pia Satinsky, Henrik Rang und Carolin Wappler.
Scheufele, Bertram u.a.: Der kommunikative Kosmos von Gefangenen. Eine sozialkonstruktivistische Studie zum Strafvollzug in Baden-Württemberg. Baden-Baden 2019.