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Kollektive Verdrängung und der große Sündenbock

3. April 2021

„Hinaus, heraus, hinweg“: elfmal tönt es so aus der Johannespassion. Schon sprachlich ist die Sache eindeutig. Der Störenfried muss weg, der Gesetzesbrecher hart bestraft werden. Der selbsternannte König könnte mit seiner wachsenden Anhängerschaft in politisch unruhigen Zeiten zur Gefahr werden. Am schlimmsten aber ist die Gotteslästerung. Niemand kritisiert den Tempeldienst ungestraft, und keiner erhebt sich über die Sabbatordnung. Den Tempel hat er „das Haus meines Vaters“ (Joh 2,16) genannt und behauptet, der Sabbat sei für den Menschen gemacht, nicht umgekehrt, deshalb sei der Menschensohn Herr auch über den Sabbat (vgl. Mk 2,27 f.). Was für eine Anmaßung. Wo kämen wir denn hin?

Hinweg, hinaus mit ihm vor die Tore der Stadt. Da soll er verrecken. Sie rechnen ihn „unter die Abtrünnigen“, schneiden ihn ab „vom Land der Lebenden“, begraben ihn „bei den Frevlern“. Genau so hat der Prophet Jesaja das Schicksal des Gottesknechts beschrieben (vgl. Jes 53): „Einer, vor dem man das Gesicht verhüllt.“ Sie machen es wie Kinder, die sich in höchster Angst die Hände vors Gesicht halten in der irrigen Meinung, damit sei die Gefahr gebannt. Dabei hätten die heiligen Schriften durchaus eine Deutung erlaubt, den Messias Jesus mit seinem Anspruch an sich heranzulassen. Dann hätten sie miteinander das Verständnis ihres Glaubens vertieft und die religiöse Praxis reformiert. Stattdessen schaffen sie ihn sich aus den Augen. Veränderung war nicht gewollt. Das (Pessach-)Fest soll ungestört beginnen. Wir hätten es vermutlich nicht anders gemacht.

In Verdrängung gut

Psychologisch ist der Vorgang klar. Hier findet kollektive Verdrängung auf dem Rücken eines armen Sündenbockes statt. Als psychischer Schutzmechanismus ist Verdrängung eine durchaus sinnvolle Erfindung der Natur. Individuell bezeichnet man damit nämlich die Fähigkeit, belastende, unangenehme, schmerzliche Erinnerungen und Erlebnisse aus dem Bewusstsein zu verbannen, weil es sich mit allzu viel Gefühlsballast beschwerlich lebt. Mit gutem Grund verdrängen wir Menschen, was das Zeug hält, um gesund zu bleiben. Doch es gibt auch die dunkle Seite des Verdrängens, wenn nämlich ausgeblendete und unterdrückte traumatische Erfahrungen im Untergrund der Seele arbeiten und krank machen. Ängste, Blockaden und Depressionen haben nicht selten ihre Ursache darin. Es braucht das rechte Maß von Erinnern und Vergessen, Festhalten und Loslassen. Das gilt für uns Einzelne wie auch für die Gesellschaft.

In die Ecke gedrückt. So fühlen sich manche Gefangene im Vollzug. Eine Haftraumecke mit begehrten Elektrogeräten.

Wenige Tage nach den ersten vorsichtigen Lockerungen im Lockdown Anfang Mai letzten Jahres wies der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar (*1959: Phase zwei, in: F.A.Z., 2. Mai 2020, 9) weitsichtig auf den hohen Preis eines kollektiven Verdrängens hin. Wir wollen keine Wissenschaftler und Politiker, die weiter nur schlechte Nachrichten bringen und unsere bürgerlichen Freiheiten einschränken. Wir „wünschen uns Erlöser, die uns von der Last dieser ansteckenden Geißel befreien. […] Wir werden unser Land wieder öffnen und werden verdrängen, dass diese Freiheit einen Preis hat. Wir werden uns abwenden von denjenigen, die uns die Rechnung hinhalten, und wir werden uns einigen, dass es immer auch andere Zahlen und andere Studien gibt“.

Die Quittung dafür haben wir mit einer massiven zweiten Welle der Pandemie bekommen. Und unsere Familien, die Senioren, Geschäftsleute und Kleinunternehmer, KiTa-Kinder und Schüler, Pflegerinnen und Ärzte und viele mehr, vor allem aber die beinahe 80.000 Verstorbenen haben den hohen Preis bezahlt. Wegdrücken löst echte Probleme nicht. Nach aller Erfahrung kommen sie mit Wucht zurück.

Rechnung zahlen andere

Das gilt auch für andere Schreckensmeldungen, die kaum einmal den Appetit verderben, wenn wir bei einer Tasse Tee, einem Bier und dem Abendbrot Nachrichten schauen. Wir haben gelernt, sie zu verdrängen, die menschenverachtenden Kriege, die über Jahre wüten und Hungerkatastrophen und Vertreibung im Gefolge haben; die Geflüchteten, die draußen vor den Toren der Europäischen Union abgewehrt werden und ihr Dasein in menschenunwürdigen Zuständen fristen. Seit vielen Jahren verdrängen wir die klaren Anzeichen einer Klimakatastrophe, die kommenden Generationen ihre Lebenschancen mindert. Die Schattenseiten des Fortschritts, des Liberalismus und des hochgeschätzten Gutes individueller Selbstbestimmung blenden wir aus, denn wer übernimmt die Verantwortung für die klaffende Schere zwischen Armen und Reichen, zwischen denen, die in gesellschaftlichen Prozessen begünstigt sind, und solchen, die unbeteiligt am Rande stehen? Wer will die absehbaren Folgen tragen, wenn eine auf die Spitze getriebene Autonomie das Recht auf Unterstützung beim Suizid einfordert und absehbar der Druck auf ältere und kranke Menschen wächst, sich einem unausgesprochenen Diktat zu beugen. Und wer spricht vom Lebensrecht der ungeborenen Kinder, denen die Tür zum Leben durch Abtreibung endgültig verschlossen bleibt? Wir verdrängen, was das Zeug hält, aber die Rechnung zahlen allzu oft andere.

Der große Sündenbock

Für sie alle hängt Jesus stellvertretend am Kreuz. Nach menschlichen Maßstäben ist er der große Sündenbock, in den Augen Gottes aber der leidende Gerechte. Für uns wirkt das Kreuz draußen vor den Toren der Stadt wie ein Spiegel. Wer hineinzuschauen wagt, erkennt die heillosen Zustände, das Elend und Unrecht, die ausgeblendeten Seiten der Wirklichkeit einer Welt, in der wir leben und Verantwortung tragen und aneinander schuldig werden. Auch wir können versuchen, die Augen zu schließen, um die Konsequenzen unseres Lebensstils, unserer Ansprüche und unserer Gleichgültigkeit Gott und anderen Menschen gegenüber auszublenden. Es wird nichts ändern. Denn verdrängte Probleme schlagen oft mit Wucht zurück wie ein Bumerang.

„Am Rande der Welt situiert zu sein, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, die Welt neu zu erschaffen“, hat die existenzialistische Philosophin Simone de Beauvoir (1908–1986) geschrieben. Dabei hat sie – streng katholisch erzogen, aber ihren Glauben bereits als Jugendliche verloren – womöglich auch an Jesus und sein Schicksal gedacht. Nein, vor den Toren der Stadt auf dem Hügel Golgota am Kreuz zu enden, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, die Welt neu zu schaffen. Es sei denn, er wird vom Rand in die Mitte gerückt, zugelassen mit seinem irritierenden Anspruch, Zeuge der Wahrheit und König einer neuen Welt zu sein. Gott hat es längst getan: „Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben“, heißt es bei Jesaja (Jes 52,13). Und: Der Herr hat Gefallen an ihm, er wird „Nachkommen sehen und lange leben“ (Jes 53,10). Jeder Karfreitag mit einem so eindrucksvoll schlichten Gottesdienst bietet Gelegenheit, den am Kreuz in unser Leben einzulassen. Dazu braucht es Mut zur Umkehr, herzliche Liebe zu Jesus und das Vertrauen, dass wir durch seine Wunden heil werden. Jeder Schritt hat seinen Sinn, wenn wir bei der Kreuzverehrung auf Jesus zugehen: Wir lassen ihn ein – in unser Leben, in unsere Welt.

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Karfreitagsliturgie im Hohen Dom zu Limburg, 2. April 2021
Lesungen: Jes 52–53, Hebr 4–5 | Evangelium: Joh 18–19

 

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