Das Gute und das Böse: In der Auseinandersetzung mit der menschlichen Ethik gibt es klare Grenzen. Wer gegen das Gesetz verstößt und im schlimmsten Fall einem anderen Menschen Leid zufügt, kommt hinter Gitter. Über Jahrzehnte haben sich Theo Halekotte und Ryszard Krolikowski als Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl um die Inhaftierten gekümmert. Anfang des Jahres 2023 sind die beiden Knastseelsorger aus dem Dienst in den Ruhestand verabschiedet worden. Alexander Glinka, der in Werl von 2017 bis 2019 die Ausbildung gemacht und von 2020 bis 2021 als Gefängnisseelsorger in Werl arbeitete, blickt dankbar auf die gemeinsame Zeit zurück.
Glinka sieht ebenso auf die geistliche Arbeit mit Inhaftierten, die er jetzt im geschlossenen Vollzug der JVA Dortmund und dem Offenen Vollzug der JVA Castrop-Rauxel betreut. Wenn jemand weggesperrt und für eine Tat mit dem Entzug seiner Freiheit bestraft wird, kann Nachdenken zur Qual werden. Die AnsprechpartnerInnen sind neben den VollzugsbeamtInnen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen die GefängnisseelsorgerInnen. Die Seelsorge hat im Gefängnis ein Alleinstellungsmerkmal: die uneingeschränkte Schweigepflicht, die mit dem Beichtgeheimnis gleichzusetzen ist. Und wie begegnet die “Geistlichkeit” einem Inhaftierten? „Man begegnet dem Menschen und nicht der Tat”, fasst Glinka die wichtigste Botschaft über seine Arbeit zusammen. Der 34-Jährige hat an der Ruhr-Universität Bochum. Katholische Theologie und Erziehungswissenschaft studiert und wollte dort eigentlich Studienberater werden. 2017 kam er über Umwege in das Trainee-Programm für TheologInnen im Erzbistum Paderborn und landete in der JVA Werl, wo er auf die beiden Gefängnisseelsorger traf: Pfarrer Ryszard Krolikowski, der 16 Jahre lang in Werl tätig war, und den Theologen Theo Halekotte, der seit 1986 stolze 37 Jahre lang für die Inhaftierten in Werl Ansprechpartner war.
Halekotte wurde als Werler Kind in der Wallfahrtsstadt katholisch sozialisiert, studierte Theologie und Sozialpädagogik und kam über ein Praktikum in der JVA zum Seelsorger-Beruf. Er ist weiterhin als einer von zwei Glockensachverständigen für das Erzbistum Paderborn im Einsatz. Krolikowski wurde in Breslau zum Priester geweiht, kam 1990 nach Deutschland sowie über mehrere Vikarstellen und einer Hospitation in der JVA 2007 nach Werl. Im Gegensatz zu Dortmund, wo viele noch in U-Haft sitzen, sitzen in Werl wegen Raub, Vergewaltigung oder Mord verurteilte Menschen lange Haftstrafen ab. Zum Teil verbleiben sie im Zuge der im Urteil festgelegten Sicherungsverwahrung über die abgesessene Haftstrafe hinaus.
Motivation religiös verwurzelt
Nun sind mit Theo Halekotte und Ryszard Krolikowski zwei große Säulen weggebrochen. Nachfolger von Ryszard Krolikowski ist Winfried Grohsmann, der seit 2021 in der JVA Werl tätig ist. Grohsmann war über 20 Jahre in Castrop-Rauxel als Leiter des Pastoralverbundes Castrop-Rauxel Süd tätig. Die Stelle von Theo Halekotte ist noch vakant. Zwei evangelische Pfarrerinnen sind in der JVA Werl mit der Dekanin Utta Klose und Constance Herfeld tätig. In den zwei Jahren, in denen Glinka mit den “alten Hasen” tätig war, hat er vieles aufgeschnappt, gelernt und für sich erkannt. Zum Beispiel die eigene Motivation, die bei ihm tief religiös verwurzelt ist. Er möchte sich vor allem in seinen Taten am Evangelium Gottes und der Botschaft Jesu messen lassen. Gott zeige sich ihm durch Zufälle, die sein Leben geprägt haben. Total begeistert war er vom Gesang der Männer in der Schola, die von Krolikowski stimmlich und dem Orgelspieler Halekotte instrumental geleitet wurde – mit orthodoxen und muslimischen Inhaftierten, alles querbeet. „Klick“ habe es bei ihm in seiner Anfangszeit während eines Gottesdienstes gemacht, in der er begriff, dass „jeder zu Gott kommen kann und alle vor ihm gleich sind“. Die Gottesdienste sind ein Treffpunkt für alle, auch den sogenannten Atheisten. Die Tür steht jedem offen, nur wer stört, fliegt raus aus dem Gottesdienst.
Not lehrt das Beten
Im Werler Knast leben Inhaftierte aus über 40 Ländern, zumeist zu langen Haftstrafen Verurteilte mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründen. Diese Vielfalt kann anstrengend, aber auch bereichernd sein, so Seelsorger Alexander Glinka. „Die Gefängnisgemeinde lebt wesentlich vom ökumenischen und interreligiösen Miteinander – weit mehr als in Kirchengemeinden draußen“, betont er, für den Halekotte und Krolikowski Mentoren und Vorbilder waren. Von Halekottes Gesprächen oder Krolikowskis kurzen, intensiven Predigten habe man stets einen Satz mit in die Woche nehmen können. Die Gottesdienste in der Gefängniskirche St. Peter in Ketten seien immer gut besucht, auch werden Inhaftierte getauft oder gefirmt, was in dieser Umgebung eine durchaus mutige Entscheidung bzw. ein klares Bekenntnis ist. Es finden Feste statt, zu denen alle unabhängig ihres Glaubens kommen. „Die Kirche ist für viele wie eine Oase im Haftalltag“, so Glinka. Fernab vom alltäglichen Trubel und den Gepflogenheiten der Welt da draußen, bleibt den Inhaftierten Zeit für die innere Einkehr. Glinka ist da ein hilfreicher Ansprechpartner – auch für die Bediensteten. „Ich höre zu. Wir lachen aber auch viel“, sagt er, der einer menschennahen Sprache sehr zugewandt ist. Und es ist so: Die Not lehrt das Beten. Bei Todesfällen und in Trauer ist er intensiver im Einsatz. Im Gespräch erfahre er so manches, was ohne die Schweigepflicht nicht zur Sprache käme. Das Wissen darüber und die Komplexität des Knastalltags zu verdauen, sei nicht einfach. „Aber dafür gibt es die Supervision.“
Corona hat die Situation erschwert
Meist sind die Seelsorge-Gespräche Einzelgespräche, in denen es um das eigene Leben geht, um Nöte, die mit der Beengtheit und dem Freiheitsverlust zu tun haben oder um Sorgen, die mit der Familie und Freunden zu tun haben oder mit dem Gefühl, nicht genug getan zu haben. Es geht ums Vermissen, um den Verlust der Freiheit im Allgemeinen, um eine mögliche Zukunft, aber auch um Politik, um Krieg, um Gott und die Welt. Die Corona-Pandemie sei für die Inhaftierten schwierig gewesen. Kein Sport mehr, keine Besuche, keine Gespräche. Nur noch TV, und mit der verstärkten Isolation viele Gedanken und auch Ängste. Das sei schon übel gewesen. Er hätte das nicht gekonnt. Der Seelsorger Glinka möchte im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten zur Öffnung des Vollzuges positive Hilfestellung leisten. Wer schon früh in jungen Jahren auf die Schnauze gefallen ist, gerät manchmal leider auch auf die schiefe Bahn.
Müssen sein: Strenge, Humor und Fairness
Eine gewisse Strenge sei bei seiner Arbeit schon nötig, aber auch viel Humor und vor allem Fairness. Natürlich würde man abgecheckt, werden Grenzen ertastet. „Die Inhaftierten haben eine unglaublich ausgeprägte Menschenkenntnis“, so Glinka. Aber was wichtig ist, „ist ein Kommunizieren auf Augenhöhe. Man darf keine Rolle spielen, muss authentisch sein“. Eine gewisse Coolness mitzubringen sei zwar nicht verkehrt, abgebrüht jedoch müsse man nicht sein, „das ist nicht wie beim ,Schweigen der Lämmer‘“, sagt er. Aber man kann eben nicht jedem sofort ins Herz schauen. Das Vertrauen aber wachse mit der Zeit. Und das, wenn man dem anderen unvoreingenommen und neutral begegnet oder sich ihm wie ein Knastseelsorger in christlicher Absicht nähert, so wie Pfarrer Krolikowski einmal gesagt hat: „Ich bin kein Richter. Ich verurteile die Menschen nicht, denn sie wurden schon verurteilt. Ich betrachte sie nicht als verurteilte Gefangene. Jeder, der hier in die Kirche kommt, ist ein Geschöpf Gottes.“ Alexander Glinka fügt seine Botschaft hinzu: „Steckt den Menschen nicht in eine Schublade, sondern betrachtet ihn vielmehr als einen Schrank mit vielen einzelnen Schubladen. Wir alle sind Menschen und nicht unfehlbar.“ Virtueller Rundgang durch die Werler Knastkirche…
Marion Heier | Der Dom, 23. Juli 2023, Erzbistum Paderborn