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Kirchenasyl: Wird sich das Recht durchsetzen?

15. Oktober 2022

Vor einigen Tagen hat ein Mann aus dem Kölner Ursulaviertel angerufen. Er teilt seine Wohnung mit einem Syrer. Und dessen Bruder sollte vor ein paar Tagen nach Spanien abgeschoben werden. Denn dort war der 19-jährige nach einer jahrelangen Odyssee nach Europa eingereist, dort hatte er einen Asylantrag gestellt. Später ist er nach Deutschland weitergereist.

Denn nicht nur sein Bruder lebt hier, sondern ein großer Teil seiner Familie. Nach ihnen hat er sich gesehnt. Nun aber sollte er nach Spanien abgeschoben werden. Der Flug war schon gebucht. Und jetzt kam aus dem Ursulaviertel die Frage nach Kirchenasyl. Kirchenasyl bedeutet: Man muss sich kümmern, viel telefonieren, eine Unterkunft in einer Kirchengemeinde finden, Gespräche führen, Zeit investieren, Mails schreiben und Formulare ausfüllen. All das ist mir durch den Kopf gegangen. Als ich den Hörer in der Hand gehalten habe. Und mir der Mann die Bitte vorgetragen hat. „Können Sie mir helfen?“

Ikone des polnischen Künstlers Borys Fiodorowicz. Als einer der wenigen schafft er Ikonen, mit denen er die Probleme und Herausforderungen der modernen Welt beschreibt.

Verschaff mir Recht

Womit wir bei der Geschichte wären, die wir am Sonntag im Gottesdienst hören. Eine Witwe geht wieder und wieder zu einem Richter. Witwen gehörten in Israel zu den rechtlosesten Personen. Mit ihnen konnten vor allem Männer umspringen, wie sie wollten. „Hilf mir!“ sagt sie. „Verschaff mir mein Recht!“ Der Richter hat keine Lust und wimmelt sie immer wieder ab. Aber die Frau bleibt hartnäckig. Schließlich gibt der Richter entnervt seinen Widerstand auf. Vielleicht fürchtet er eigene Nachteile, wenn er nicht hilft. Vielleicht ist er die Bettelei einfach leid.

Hilf mir

Hilf mir!“ Das hat der Mann am Telefon gesagt. Mitten in meine Gedanken, die ganz woanders waren. Mitten in all die Dinge, die auch noch erledigt werden wollen. „Hilf mir!“ Mitten in das, was jetzt liegen bleibt. „Hilf mir!“ Mitten hinein in die Ungewissheit, ob die Hilfe überhaupt gelingen wird. „Hilf mir! Verschaff dem Syrer zu seinem Recht!“

Hilf mir, Recht zu verschaffen. Das ist der aufregende, entscheidende Spin in dem Evangelium. Recht verschaffen – das bedeutet etwas ganz anderes als das, woran ich denke, wenn ich am Gericht in der Kölner Blumenthalstraße vorbei gehe. Es bedeutet etwas ganz Existenzielles: Recht schafft der, der seinem Gegenüber gerecht wird. Einem Menschen gerecht werden heißt: Sich sorgen um das, woran er Not leidet. Es bedeutet, seinem Wesen, ihm als Person mit allem, was ihm von Gott geschenkt wurde, mit allem, was ihn ausmacht Rechnung zu tragen.

Hilf mir bei der Sorge um das, was ich brauche.“ Wir oft mag der junge Syrer dieses Satz in den letzten drei Jahren ausgerufen haben. Und vor ein paar Tagen war ich halt dran, war unsere Pfarrei dran. Mit der Rolle des Richters, der Richterin. Der Rolle derjenigen Menschen, die darauf achten müssen, dass denen Rechnung getragen wird, die aus den Augen, aus dem Sinn sind. Den zahllosen und namenlosen Witwen und Syrern dieser Welt.

Zu viel Not

Das ist ein wahnsinniger Anspruch. Es gibt einfach zu viele Witwen, zu viele Syrer. Zu viele Ukrainer, zu viele Sterbende. Zu viele Kranke und zu viele Einsame. Es gibt zu viel Gleichgültigkeit und harte Herzen. Es gibt zu viel Überforderung. Zu viel Bequemlichkeit. Zu viel Not. Aber das Recht muss sich durchsetzen. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Rechtschaffenheit, nach dem Recht, die ist riesig. Ist lästig, hartnäckig, bohrend. Aber: Das Recht wird sich durchsetzen, weil Gott selbst das Recht, die Gerechtigkeit, die Rechtschaffenheit ist. Auch das sagt die Geschichte ja: Selbst durch die Ignoranz, Behäbigkeit und Überforderung all der ungerechten Richter dieser Welt hindurch verspricht Gott, dass jedem Notleidenden Rechnung getragen wird und dass ihr Sehnen, jedes Sehnen, an sein Ende kommen wird. Das ist ja das wunderbar Tröstliche und Starke dieser Geschichte: Gott findet sich niemals ab. Durch alle Trägheit hindurch hält er das Recht hoch. Darauf kannst du dich verlassen.

Einander Rechnung tragen

Und deswegen lese ich die Geschichte vom ungerechten Richter auch als eine Ermutigung an mich, gegen meine eigene Überforderung und Müdigkeit diese Sehnsucht Gottes nach dem Recht in der Welt mitzutragen. Es geht, weil Gott selbst Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit ist. Und weil eine Welt, in der wir einander Rechnung tragen doch eine schönere ist als die, in der alles in Gleichgültigkeit versinkt. Die Welt, in der wir einander das gewähren, was Not tut, das ist Gottes Welt. Nach endlosem Nachdenken, vielen Telefonaten, Mails und Gesprächen konnten wir den jungen Syrer vorerst in einem Raum in St. Gereon unterbringen. Selten habe ich im Gesicht eines Menschen solch eine Erleichterung gesehen, als er die Tür zu dem kleinen Kämmerchen aufgemacht hat. Die Welt, in der Menschen einander Rechnung tragen ist einfach eine schöne Welt.

Peter Otten | Titelbild: Borys Fiodorowicz 

 

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