Seit Jahren richtet die in Politikwissenschaften promovierte Journalistin Christiane Florin ihren scharfen Blick und ihre spitze Zunge auf missbräuchliche Strukturen in Gesellschaft und Kirche, wobei ihr Fokus auf der katholischen Kirche liegt. Es ist sicher keine Übertreibung, sie bezüglich dieser Thematik als eine der führenden unabhängigen Expertinnen im deutschsprachigen Raum zu bezeichnen.
In ihrem jüngsten Buch „Keinzelfall“ stellt sie weniger die Strukturen, als vielmehr die Person und das Erleben eines einzelnen Mannes in den Mittelpunkt. Dessen Geschichte wird unter dem Pseudonym Heinz beleuchtet. Und auch wenn es sich hierbei um einen Einzelfall handelt, gerät in der Betrachtung eine ganze Gruppe Betroffener des Missbrauchs in den Fokus. Eine Gruppe, die in Anzahl und Ausmaß wahrscheinlich ganz oben im Ranking der Geschundenen steht, die aber in der öffentlichen Diskussion nur sehr am Rande vorkommt: Die Heimkinder, also Kinder und Jugendliche, die wesentliche und prägende Jahre ihrer Kindheit und Jugend in katholischen Kinderheimen verbrachten.

Christiane Florin: Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte. Patmos, 2025. 19 Euro
Kinderheim der Caritas
Heinz ist eines von ihnen. 1958 im Ruhrgebiet geboren, wächst er zusammen mit neun Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach dem Suizid des Vaters und dem Krebstod der Mutter werden sie zu Vollwaisen. Heinz ist da acht Jahre alt. Er und sein jüngerer Bruder finden Aufnahme in einem Kinderheim der Caritas. Für Heinz beginnen Jahre des Missbrauchs. Er wird gedemütigt, geschlagen und medikamentös der Freiheit beraubt, er erlebt brutalste sexualisierte Gewalt. In besonderer Weise sadistisch treten Präses Ott, ein katholischer Priester, und Schwester Ilse, eine Erzieherin auf. Und wir treffen auf eine Besonderheit, die den Missbrauch an Heimkindern kennzeichnet. „Der Vollwaisen-Knabe galt nicht als Mensch mit voller Würde. An dem Kind ohne Lobby lebten Erwachsene im kirchlichen Dienst sadistische Neigungen aus. … Sie ließen dem Sadismus freien Lauf, weil sie es konnten. Die Grausamkeit blieb für sie selbst folgenlos.“
Umfassende Studien gibt es nicht
Die Autorin befasst sich mit der Heimerziehung in den jungen Jahren der Bundesrepublik, in der bis weit in die 60er Jahre Erziehungsmethoden und Autoritarismus der NS-Zeit fortwirkten. Vorgehensweisen, die im kirchlichen Kontext aber auch eine religiöse Begründung fanden, denn „das vermeintlich Böse in den Kindern zu bekämpfen, galt als christliche Aufgabe.“ Während die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in den Kirchen schleppend verläuft, hat sie hinsichtlich des erlittenen Unrechts der Heimkinder noch fast gar nicht begonnen. Florin tritt in Kontakt mit Verantwortlichen des Bistums Essen und der Caritas. Die Antworten, die sie erhält, sind spärlich. Umfassende Studien gibt es nicht, bis heute.
Leid der Heimkinder im Fokus
Heinz hat überlebt. Es war ein Kampf. Ein Kampf gegen die eigene Wut, gegen die Versuchung der Betäubung negativer Gefühle, gegen Suizidgedanken und -versuche. Geholfen haben ihm seine Frau, seine Familie, seine Enkel. Und doch holt ihn sein Trauma nachts in seinen Träumen immer wieder ein. Die Träume schreibt er auf. Die Autorin hat ein bedrückendes, aber auch spannendes Buch geschrieben. Ihre Sprache ist klar und einfach, ihre Ausführungen sind prägnant, zeitweise auch humorvoll und manches Wortspiel prägt sich ein, vertieft das Geschriebene. Das Buch liest sich gut und ich konnte es kaum zur Seite legen. Christiane Florin rückt das Leid der Heimkinder ins Licht. Sie beleuchtet einen Einzelfall, der keiner ist. Und vielleicht liegt ihr größter Verdienst darin, dass sie Heinz Raum gibt. In den persönlichen Treffen zur Vorbereitung des Buches, aber auch im Buch selbst. Das Herz des Buches liegt in dessen Mitte. Im Kapitel 8 kommt Heinz selbst zu Wort und erzählt seine Geschichte, in seinen Worten, unredigiert und authentisch. Das Heimkind, das überlebt hat. Hoffentlich hören ihm viele zu. Denn er ist kein Einzelfall.
Bernhard Sauer | Dipl.-Sozialpädagoge (FH), Dipl.-Theologe