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Gibt es eine Karriere innerhalb des Gefängnisses?

24. Januar 2021

In der Soziologie wird seit Ende des 20. Jahrhunderts versucht, den Karrierebegriff zum Beschreiben von Lebensläufen vom Prinzip des aufwärtsstrebenden, erfolgreichen beruflichen Werdegangs zu lösen. Und im Gefängnis? Dies ist Thema im Rahmen einer Forschungsarbeit einer Studierendengruppe der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Lehrstuhl für Soziologische Theorie mit dem Titel „Karrieren innerhalb des Gefängnisses. Inwiefern machen Insassen im sozialen Kontext der Justizvollzugsanstalt Karriere?“ Begleitet wurde die Forschungsarbeit durch Prof.in Dr. phil. Maren Lehmann.

Begreift man Karriere als die „sozialen Wechselfälle im Lebenslauf eines jeden Menschen“ (Goffman 1973, S. 127), die maßgeblich an der Konstitution der individuellen Identität beteiligt sind, so stellt sich die Frage danach, inwiefern eine Karriere als Gefangener innerhalb eines Systems von umfassenden Reglementierungen überhaupt möglich ist. Foucault beschreibt die systematischen Zwänge, denen ein jeder Inhaftierte ausgesetzt wird, als „totale Erziehung“ (Foucault 1994, S. 302), in deren Verlauf die Häftlinge zu Disziplinarindividuen transformiert werden.

Mit der Vorlage eines CD Covers des Rappers Chris Brown erstellt ein Inhaftierter seine Zeichnung.

Karriere in den „Innenwelten“

Um also nach einer Karriere als einer Geschichte von Erfolgen und Misserfolgen innerhalb eines Gefängnisses fragen zu können, muss der Blick auf all jene Bereiche des Lebens innerhalb der Institution gerichtet werden, die von der umfassenden Entmündigung beim Eintritt (vgl. Goffman 1973, S. 139) unberührt bleiben oder welche Sphären der Unterminierung dieser Entmündigung vorhanden sind, beziehungsweise geschaffen werden. Mit anderen Worten, betrachtet man die oben genannten sozialen Wechselfälle, die damit einhergehenden Erfolge und Misserfolge, als Resultat der wechselnden Rollen in den jeweiligen Lebensbereichen eines jeden Menschen und den jeweiligen sozialen Stellungen in diesen und den Entwicklungen derselben, die in der totalen Institution wegfallen, und ferner als elementares Element der Konstitution individueller Identität, wird fraglich, welche Möglichkeiten sich zu distinguieren den Inhaftierten bleiben. Das heißt, es stellt sich die Frage, ob zwischen verschiedenen Lebensbereichen in der formal gleichgeschalteten Gruppe der Inhaftierten unterschieden werden kann und wie sich innerhalb dieser Gruppe soziale Strukturen ausbilden, in deren Durchlauf der Häftling Prozesse durchschreitet, die seinen Status in der Gemeinschaft der Insassen in die eine oder andere Richtung verändern. Hieraus ergab sich das Interesse daran, wie die Inhaftierten ihren Alltag und die ihn konstituierenden Faktoren wahrnehmen (wie zum Beispiel das Zeitempfinden der Gefangenen sich darstellt). Ferner wäre natürlich problematisch, von einer Binarität im Sinne einer strikten Hierarchie auszugehen.

Die Frage nach einer Karriere in der Innenwelt der (totalen) Institution setzt also eine „Gefangenenkultur“ voraus, die sich aus der Interaktion der Inhaftierten untereinander und ihrer Beziehung zur Institution ergibt (vgl. Goffman 1973, S. 60  ff.). Diese bietet die Gelegenheit eines sozialen Prozesses innerhalb der Gefangenengemeinschaft, oder dieser Prozess die Möglichkeit auf eine Art Gefangenenkultur. Mit Gefangenenkultur sind hier also all jene Vorgänge im Leben der Inhaftierten gemeint, die ihre Beziehung zueinander und zur Institution ordnen. Der Natur dieser Beziehungen wird weiter unterstellt, dass sie die Insassen auch in einer Hierarchie zueinander ordnen. Die Gefangenenkultur fasst damit die Konventionen der Inhaftiertengemeinschaft, nach denen ein sozialer Status oder eine Position in der Hierarchie erworben wird.

Es galt also, die Bereiche des Lebens eines Inhaftierten zu erfragen, die eine Interaktion zwischen den Gefangenen zulassen, die Art dieser Interaktion zu erfassen, um zu ergründen, ob aus diesen eine Art „Gefangenenidentität“ erwächst, die sich eben auf eventuelle Rituale und andere ordnende soziale Prozesse bezieht. Unterstellt man oben Genanntes, wird die Frage nach der Karriere des Inhaftierten innerhalb der Institution zur Frage nach den Erfolgen und Misserfolgen in den Beziehungen dieser „Gefangenendentitäten“ zueinander und zur Institution. Oder mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, ob und welchen (informellen) Status ein Inhaftierter in der Gefangenengemeinschaft in welcher Weise erwerben kann und die Frage nach der Karriere würde zur Frage danach, wie erfolgreich ein Inhaftierter dabei ist, sich in der unterstellten Hierarchie der Inhaftierten zu positionieren. Dabei ist ebenfalls Augenmerk darauf zu richten, welche Wechselwirkungen es zwischen dieser informellen Hierarchie und der von der Institution oktroyierten gibt.

Laufbahn des Inhaftierten und Delinquenz

Der Blick soll auf die Sozialstruktur der Gefangenengemeinschaft gewandt werden, die den sozialen Raum darstellt, in dem sich die Karrieren der jeweiligen Inhaftierten vollziehen. Das Gefängnis stellt sich dem Inhaftierten zunächst als Welt der Beschränkung und der Reglementierung dar. Die Architektur der Gefängnisse und gleichermaßen die strikten Tagesabläufe und Verhaltensvorschriften zielen auf die Kontrolle der Körper der Häftlinge ab (Foucault 1994, S. 177, Goffman 1977, S. 185), durch welche eine „Disziplin des Seins“ (Goffman 1977, S.184) durchgesetzt wird. Dies ist der konkrete (offizielle) Rahmen, in dem sich die Insassen bewegen können. Der Eintritt in das Gefängnis beginnt mit dem Entzug der Kontrolle über das eigene Selbst, und der Prozess der weiteren Einweisung lässt sich als Dekonstruktion des Selbst des jeweiligen Inhaftierten begreifen (Goffman 1977, S. 29ff., S. 43f.). Wenn wir oben erwähnten, dass es Aufgabe des Stabes sei, die Ordnung der Institution aufrechtzuerhalten, dann bedeutet dies im Gefängnis, die totale Unterordnung und Kontrolle der Inhaftierten zu gewährleisten (Goffman 1977, S. 45ff.). Der totale Charakter der Institution Gefängnis lässt sich maßgeblich unter diesem Gesichtspunkt verstehen.

Die Inhaftierten werden so Gegenstand einer objektivierenden Praxis durch den Stab, der mit der Verwaltung des ihm anvertrauten Menschenmaterials betraut ist. „Das Personal bringt keine Dienstleistungen hervor, sondern bearbeitet in erster Linie Objekte und Produkte – doch diese Objekte und Produkte sind Menschen“ (Goffman 1977, S. 78). Im Zuge dieser „Bearbeitung“ werden die Gefangenen zu Inhaftierte objektiviert und diese ihre oktroyierte soziale Identität wird reproduziert anhand einer Norm, deren proklamierter Zweck die Besserung der Häftlinge ist (Goffman 1977, S. 79). Die Differenzierung zwischen Stab und Inhaftierten vollzieht sich ferner nicht nur im Oktroyieren von Tätigkeiten, deren Ausführungsweise inbegriffen und der Möglichkeit sich im Gefängnisgebäude zu bewegen (bzw. es auch verlassen zu können), sondern auch in Symboliken: die voneinander verschiedenen Uniformen von Stab und Inhaftierten, die im (architektonischen) Raum zugewiesenen Plätze, die Art der jeweilig angemessen Interaktion mit dem Stab, respektive den Inhaftierten. Die Differenzierung von Stab und Gefangenen gewährleistet demgemäß auch eine symbolische Kontrolle der Inhaftierten im Sinne Anstaltsordnung (Goffman 1977, S. 87ff.). Die oben bereits erwähnte primäre Anpassungsform (vgl. Kap. 3.6), von der Goffman spricht, ist insofern die Kollaboration des Insassen mit seiner eigenen Unterwerfung. Das Unterleben, dessen Praktiken ihrem Wesen nach subversiv sind, erscheint vor diesem Hintergrund als die Behauptung des Selbst des Inhaftierten einer eigenständigen Identität gegen die Institution: diese Praktiken erschließen „Freiräume“ (Goffman 1977, S. 222f.).

Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass ein Großteil der Gefangenenkultur sich im Unterleben der Gefängnisse konstituiert. Das Ansehen der einzelnen Inhaftierten bezogen auf das Innenleben des Gefängnisses hängt von diversen Faktoren ab: Die spezifische Beschaffenheit des Straftatbestands, der zur Verurteilung führte, lässt sich in dieser Hinsicht mit einem verliehenen Titel vergleichen, die Erfahrung im Gefängnisleben führt zu Autorität. Die Dauer des Aufenthaltes, sowie eine gute ökonomische Stellung vor der Einweisung führen zu einer komfortableren ökonomischen Stellung in Haft, aus der Bittstellerverhältnisse, also persönliche Abhängigkeitsbeziehungen hervorgehen können. Direkt auf das Unterleben bezogen scheinen Zugang zu Drogen oder ähnlichem ein gewisses Ansehen zu garantieren. Die Inhaftierten sind des weiteren sehr einfallsreich darin, Kommunikationswege zu eröffnen, die nach Anstaltsordnung regelwidrig sind. Anzumerken ist ferner, dass aus der eigentümlichen Lebenswelt der Inhaftierten ein eigener Jargon entsteht.

Aus den Praktiken der Gefangenen, beziehen sie sich nun positiv oder negativ auf die Institution, wird ersichtlich, dass sich diese einen spezifischen Lebensstil im Umgang mit den Widrigkeiten ihrer Situation angeeignet haben. Sie distinguieren sich vom Stab und untereinander. Es lässt sich also resümieren, dass beim Verlauf der Haftzeit, die maßgeblich dadurch geprägt ist, nicht in Schwierigkeiten zu geraten, Erfolge hauptsächlich als dem Entgehen einer Bestrafung (und bei Bewährungsstrafen die Verkürzung der Haftstrafe), sowie des Erlangens möglichst großer Freiräume durch subversive Methoden erscheinen. Weiterhin bestehen sie darin, andere Insassen in die eigene Abhängigkeit zu bringen (ökonomisch oder was den Zugang zu verbotenen Genussmitteln o.ä. betrifft). Aus den geschilderten Tatsachen wird eine Vielzahl an Praktiken ersichtlich, die zu einem großen Teil die Insassen noch weiter vom Stab differenzieren, und sie des weiteren untereinander differenzieren, ferner genuin (den vorliegenden Untersuchungen nach) den jeweiligen Positionen der Akteure zu entspringen scheinen. Darauf hin lässt sich die Ausbildung eines spezifischen Inhaftierten-Habitus konstatieren:

„Jede spezifische soziale Lage ist gleichermaßen definiert durch ihre inneren Eigenschaften und Merkmale wie ihre relationalen, die sich aus ihrer spezifischen Stellung im System der Existenzbedingungen herleiten, das zugleich ein System von Differenzen, von unterschiedlichen Positionen darstellt. Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz.“ (Bourdieu 1987, S. 279)

Die „Falle“, von der Foucault spricht, besteht also nicht nur in der mechanischen Einheit „als technologisches Ensemble“ aus „Besserungsstrafe und Delinquenten“, die „fast schicksalhaft diejenigen wieder vor Gerichte [führt], die ihm anvertraut waren“ oder in der Hoffnungslosigkeit der erwarteten gesellschaftlichen Position nach der Entlassung, die erneut in die Kriminalität führt, sondern auch in der statistischen Unwahrscheinlichkeit sich mit dem angeeigneten Gefangenen-Habitus wieder an das geregelte Leben der bürgerlichen Gesellschaft anzupassen.

Schlussfolgerung

Die vorliegende Forschungsarbeit zeigt, dass deutsche Gefängnisse als totale Institutionen nach Goffman und (ihrer offiziellen Bezeichnung entsprechend) als Anstalten nach Weber zu betrachten sind. Ziel dieser Forschungsarbeit war es, zu untersuchen, wie Inhaftierte Karrieren innerhalb dieser totalen Institutionen durchlaufen. Dabei wurde die Karriere als der Erfolg oder Misserfolg definiert, sich in der Hierarchie der Insassen zu positionieren, sowie als Laufbahn  des Gefangenen während seiner Zeit in Haft. Die Fachliteratur, die sich nicht auf den deutschen Strafvollzug bezieht, wie auch die empirische Erhebung haben weiterhin gezeigt, dass soziale Hierarchien von Faktoren der Außenwelt geprägt sind. Gruppenzugehörigkeit wird über die Herkunft, einen vorherbestimmten Faktor, entschieden. Lediglich die physische Stärke ist ein Machtinstrument, das innerhalb des Gefängnisses erlangt werden kann. Durch die umfassende Kontrolle des Inhaftierten durch die Institution und der damit entzogenen Selbstbestimmung finden Karrieren nur eingeschränkt im Sinne von Erfolgen und Misserfolgen statt. Vielmehr ist der Alltag vom Vermeiden von Konflikten geprägt.

Das Gefängnis wird als Realität erst dann akzeptiert, wenn die Entlassung kurz bevorsteht. Die Karrieren der Gefangenen stellen sich tatsächlich nicht als „glanzvoll“ dar, sondern als Prozesse, in deren Verlauf Individuen einer umfassenden Objektivierung unterworfen werden. Es bedürfte größer angelegten Studien, um mehr Licht auf die Gefängnis-Wirklichkeit zu werfen und um das Dogma der Notwendigkeit von Bestrafung kritisch zu hinterfragen.

Coco Lina Aglibut, Tom Dahlke, Katharina Kipp, Justus Susewind, Alice von der Osten, Hans Willems

Zur gesamten Forschungsarbeit (für registrierte NutzerInnen)

 

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