Die schweizer Justizvollzugsanstalt Pöschwies beherbergt männliche Inhaftierte, die zu Freiheitsstrafen, stationären Maßnahmen oder Verwahrung verurteilt wurden. In dieser anspruchsvollen Umgebung stehen der reformierte Pfarrer Frank Stüfen und Imam Sakib Halilovic als christliche und muslimische Gefängnisseelsorger gemeinsam im Dienst. Sie zeigen im Interview, warum eine religionsspezifische Seelsorge unverzichtbar ist.
Herr Stüfen, Herr Halilovic – wie gestaltet sich Ihre alltägliche Arbeit in der JVA Pöschwies?
Frank Stüfen: Unsere Hauptaufgabe besteht darin, Einzelgespräche mit den Insassen zu führen, die in unseren Büros oder vor Ort bei den Insassen stattfinden -von morgens bis halb zwölf und nachmittags bis halb fünf können wir das tun. Diese Gespräche können wir auch während der Arbeitszeiten der Insassen führen. Neben der pastoralpsychologisch orientierten Gefängnisseelsorge bieten wir Unterstützung in anderen Bereichen an und vernetzen uns mit der Sozialarbeit, abgestimmt auf die anderen Angebote der JVA. Wir sind als religiöse Autoritäten tätig und werden in verschiedene Abläufe der JVA einbezogen. Die Art der Zusammenarbeit in der JVA Pöschwies ist in dieser Hinsicht einzigartig, nicht nur in der Schweiz, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum.
Einige beschäftigen sich zum ersten Mal mit der Religion. Sie teilen mit uns, was in ihren Seelen vorgeht.
Sakib Halilovic
Die Inhaftierten können offen mit uns sprechen, ohne Angst vor zusätzlichen Sanktion haben zu müssen. Das Besondere ist, dass wir keine Berichte verfassen.
Frank Stüfen
Sakib Halilovic: Wir arbeiten interdisziplinär und knüpfen eng an die Bedürfnisse der Anstalt an. Die Seelsorge nimmt hier eine besondere Stellung ein. Seit 12 Jahren bin ich in der Gefängnisseelsorge tätig und die Pöschwies ist definitiv ein herausragendes Beispiel in der Schweiz. Der Kanton Zürich zeigt sich als Vorreiter in Sachen Seelsorge, einschließlich der muslimischen Seelsorge. Hier ist das Programm QuaMS zu nennen.
Stüfen: In der Pöschwies organisieren wir darüber hinaus Feiern, sei es das Freitagsgebet oder den Sonntagsgottesdienst. Sakib leitet zudem die Koranschule.
Was muss man sich unter dieser Koranschule konkret vorstellen?
Halilovic: Wir bieten keine traditionelle Koranschule, sondern vielmehr “Koranstunden” an, bei denen wir gemeinsam aus dem Koran lesen und Gebete verrichten. Einige Insassen wünschen sich das Lesen des Korans oder bitten um Vorlesungen von Versen. Dabei stellen sie Fragen, die wir mit Hilfe des Korans und der Hadith beantworten. Unsere Herangehensweise ist offen und flexibel, ohne feste Themen oder Vorgaben. Wir richten uns nach den Bedürfnissen der Gefangenen und heißen sie mit offenen Armen, Herzen und Seele willkommen.
Was bat Sie denn dazu motiviert in der Gefängnisseelsorge zu arbeiten?
Halilovic: Früher hätte ich nie gedacht, dass ich mit der Gefängnisseelsorge in Berührung kommen sollte. Als Imam hat ich jedoch stets Erfahrung in der Seelsorge sei es in der Moschee oder im Privatem. Mein erster Kontakt mit dem Gefängnis ergab sich, als Kollegen religiöse Materialen wie bosnischsprachige Korane für Insassen benötigten. Später bot ich Einführungskurse in Seelsorge für Gefängnnisangestellte an. Dann erhielt ich spontan die Gelegenheit, an die Pöschwies zu kommen, um das Freitagsgebet abzuhalten und Gespräche zu führen. 2014 wurde ich vollständig in die Gefängnisseelsorge integriert. Je tiefer ich in diese Arbeit eintauchte, desto mehr wuchs meine Motivation, Insassen auf ihrem Weg zu begleiten. Ihre Geschichten und Schicksale wirkten wie ein Magnet auf mich, und ich verspürte den starken Wunsch, sie auf ihrem Weg zu unterstützen.
Stüfen: Für mich spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. Ein wichtiger Aspekt ist meine Herkunft aus einer eher prekären Familiensituation, in der Gewalt eine große Rolle spielte. Dennoch habe ich die Gefängnisseelsorge nicht bewusst angestrebt. Vor fast 25 Jahren bin ich in diesen Bereich eingetreten, als das Pfarramt mich bat, im Flughafengefängnis für einige Monate einzuspringen. Das erste Gespräch war sehr berührend und unverstellt – und es wurden alle relevanten Themen auf den Tisch gebracht. Ich spürte, dass ich am richtigen Ort war und diese Arbeit zu mir passte. So kam ich schließlich in die Pöschwies.
Was beschäftigt die Insassen am meisten?
Stüfen: Die Themen der Gefängnisseelsorge ähneln oft den alltäglichen Anliegen, die ich als Pfarrer außerhalb des Gefängnisses erlebe. A11erdings ist der Kontext hier ein anderer, da es viel um Vollzug und zwischenmenschliche Beziehungen geht. Dies beinhaltet, wie die Inhaftierten sich in dieser Umgebung zurechtfinden, ihre Arbeitssituation wahrnehmen und mit ihren Wohnverhältnissen umgehen. Familienangelegenheiten sind von zentraler Bedeutung, und die lnhaftierten beschäftigen sich häufig damit, wie sie mit den Auswirkungen ihres Handelns umgehen sollen. Es stellen sich wichtige biographische Fragen, durch welche Entscheidungen sie Schuld auf sich geladen haben und was nun mit dieser Schuld geschieht. Die entscheidende Frage lautet jedoch, wie sie aus diesen Mustern ausbrechen und so schnell wie möglich in die Freiheit zurückkehren können. In unseren Gesprächen können die Inhaftierten ganz offen mit uns sprechen, denn die besprochenen Themen bleiben dann unter uns beiden. Das besondere an unserer Arbeit ist, dass weder Sakib noch ich Berichte verfassen. Das macht unsere Arbeit äußerst einzigartig und unterstreicht die Wichtigkeit der seelsorglichen Schweigepflicht.
Finden neben den alltäglichen Gesprächen auch Gespräche religöser Art statt zum Beispiel im Rahmen der Verarbeitung des Schuldgefühls?
Stüfen: Obwohl sie nicht den Hauptfokus unserer Arbeit ausmachen, sind religiöse Gespräche ein wichtiger Teil davon. Es ist entscheidend zu verstehen, dass die Bewältigung von Schuldgefühlen im christlichen Kontext nicht allein durch die göttliche Vergebung abgeschlossen ist. Wenn es so einfach wäre, dass ein Pfarrer die spirituelle Vergebung erteilt und die Angelegenheiten erledigt ist, würde ich mich für die Menschen freuen. Vielmehr geht es darum, wie Menschen ihre Schuldgefühle gegenüber ihren Familien, ihren Kindern, den Opfern und innerpsychisch bewältigen.
Halilovic: Einige Insassen beschäftigen sich intensiv mit der Religion, während andere ihr Wissen auffrischen oder sie zum ersten Mal erkunden. Diese Menschen teilen mit uns, was in ihren Seelen vorgeht. Es gibt Insassen, die ihre Taten nicht bereuen, da sie Verbrechen über viele Jahre hinweg begangen haben und dies für sie zur Normalität wurde. In Gesprächen meiden sie oft das Thema und sprechen nur gelegentlich darüber. Besonders sensible Themen wie Familienmorde oder -probleme könnten mit Scham behaftet sein. Dies sind die eher extremen Fälle, während die meisten Gespräche alltägliche Themen betreffen. Die Insassen benötigen Vertrauen und Sicherheit, um offen zu sprechen. Unsere Rolle ist es, sie zu entlasten.
Warum braucht es eine speziell christliche und muslimische Seelsorge, die religionsspezifisch ist? Und wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Stüfen: Das Gefühl von Beheimatung und tiefer Verbundenheit wird von einem Vertreter der jeweiligen Religion am besten vermittelt. Zum Beispiel kann das Beten von Psalmen oder das Rezitieren von Suren in der eigenen religiösen Umgebung ein Gefühl der Beheimatung aus-
1ösen. In den frühen 2000er Jahren gab es Überlegungen zur Einführung religionsneutraler Seelsorge, was jedoch aus meiner Sicht das Besondere und Wichtige in der religiösen Seelsorge vermissen lassen würde. Eine derartige Seelsorge wäre im Wesentlichen psychologischer Natur und würde den individuellen Bedürfnissen der Inhaftierten nicht gerecht werden.
Halilovic: Ein Seelsorger sollte in der Lage sein, spezifische konfessionelle Rituale und Gebete zu leiten, was zur Natur der Sache gehört. Und das kann nur eine Fachperson aus der jeweiligen Konfession. Weder Frank noch ich betrachten uns ausschließlich als spezifisch muslimische oder christliche Seelsorger, dennoch schafft die gemeinsame religiöse Verbundenheit eine gewisse Nähe. Die verschiedenen Bedürfnisse der Inhaftierten erfordern unterschiedliche Herangehensweisen, und wir arbeiten kooperativ zusammen, ohne miteinander in Konkurrenz zu stehen.
Stüfen: Bei unseren Feiern in der Pöschwies laden wir uns gegenseitig ein, wie zum Beispiel an Weihnachten. Wir demonstrieren hinter Gittern, wie Gemeinschaft und friedliche Koexistenz möglich sind. Das ist etwas, was es in dieser Art draußen noch viel mehr braucht.
Aysegül Avcik-Karaaslan | Mit freundlicher Genehmigung: aufbruch Nr. 265/2023