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Offizielle und inoffizielle Regeln im Gefängnis

13. September 2019

Trotz des expliziten Erziehungsauftrages im Jugendvollzug ist im System eine hierarchische Struktur vorgegeben. In manchen Anstalten ist beispielsweise eine Gitarre im Haftraum erlaubt. Sogar Wasserkocher und richtige Pflanzen anstelle von Plastikblumen gibt es. Dennoch: Trotz aller „Vorzüge“ und Zugeständnissen sind die Lebensthematiken in abgeschlossener „Mangelwirtschaft“ der Gefängnisse ähnlich. Personalmangel ist ein chronisches Thema. Auch wenn es Sozialarbeiter und viele Freizeitmaßnahmen gibt, kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass es ein Gefängnis ist, wo die Freiheit fehlt. Reglementierungen sind überall an der Tagesordnung, auch wenn die soziale Sicherheit ein Thema ist, das den Verantwortlichen wichtig ist.

Es gibt offizielle und inoffizielle „Spielregeln“ und beide können ein Eigenleben und eine Eigendynamik entwickeln, mit denen ich gekonnt umgehen muss. Die Maßnahmen dürfen die Sicherheit und Ordnung der Anstalt nicht gefährden. Interessenkonflikte zwischen Inhaftierten, Bediensteten und der Sicherheit will in aller Widersprüchlichkeit ausgehalten werden. Die Gefangenen im Jugendvollzug kommen zum größten Teil aus unterschiedlichen Migrationshintergründen. Sie sind ihren kulturellen- und religiösen Verbindungen entwurzelt worden. Sie erinnern sich wenig oder nur durch Erzählungen anderer an ihre Wurzeln oder besinnen sich wieder neu durch ihre Inhaftierung auf ihre Herkunft.

Manche haben in ihrer Kindheit ein Wechselspiel zwischen Oma, Stiefvater, der leiblichen Mutter, Aufenthalte in Kinderheimen oder Kinder- und Jugendpsychiatrien hinter sich. Aus den Biographien der Jugendlichen und deren Delinquenzen wird deutlich, dass sie eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen, Naivität und Sorglosigkeit, Aggressionen und Beeinflussungen ausgesetzt waren und sind. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, Kulturschock, keine oder nur eine bruchstückhafte Schulbildung haben sie gelehrt, ihren Mangel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren.


In der Anstalt sind so manche Kompensierungen sichtbar. Da werden Hinweise an Türen neu interpretiert und manipuliert. Aus „Treppenhaus“ wird „repp us“. Aus „Dusche“ wird „usche“. In den Hafträumen werden Wände bekritzelt und Botschaften hinterlassen. Dies kann kein noch so kontrolliertes System verhindern. Es ist irgendwie ein Widerstand, den Jugendliche sich herausnehmen. Man kann diesem entgegenwirken, wenn die Bediensteten selbst menschlich bleiben und sozial reagieren. Es soll sich kein gemeinsames Feindbild festsetzen. Reglementierungen können von oben herab angeordnet werden. Eine andere Lösung wäre, transparent zu machen, wozu diese oder jene Regelung richtig und wichtig ist. Doch da stößt man im Gefängnis – mal zu Recht, mal zu Unrecht – an Grenzen. Manche der Gefangenen schaffen sich selbst ihr Regelwerk. Dies sind die unausgesprochen Regeln: Wenn jemand einem anderen Tabak ausleiht, soll dieser den Tabak dreifach zurück bekommen.

Jugendliche Täter sind oft selbst Opfer geworden. Es mag vielleicht eine der Arten sein, sich eine eigene Welt zu schaffen, sich denen zu entziehen, die mit ihren Schlüsseln Zugang zu den Türen haben. Auch ich als Seelsorger gehöre dazu. Ob die Schlüssel zum Zugang eines Jugendlichen mit Empathie und mit Sensibilität passen, erweist sich im konkreten Miteinander. Das gegenseitige Sich-Hochschaukeln und subkulturelle Tendenzen fördern nur oberflächlich Achtung und Akzeptanz untereinander. Hinter den Straftaten stehen junge Menschen mit ihrer Geschichte und Erkrankungen. Manche zeigen Reue, manche überspielen und manche lehnen jegliche Aufarbeitung ab. Der harte Umgang untereinander und gewaltübergreifendes Verhalten erübrigt oft eine positive Wendung hin zu mehr Menschlichkeit. Kann der Seelsorger und Pastor, der manches Mal in die Reihe der salbungsvollen „Gutmenschen“ eingeordnet wird, ein loyales Gegenüber anbieten? Solche Vermutungen beschäftigen manchen Gefangenen oder umgekehrt auch entsprechend den Vollzugsbediensteten. Transparenz und Beziehungsarbeit zur Anstaltsleitung und den MitarbeiterInnen im Vollzug sind vertrauensbildend und bilden ein gutes Fundament für Kooperationen und Zusammenarbeit.

Der Warteraum (Warterau n I) in der Kammer der JVA Herford. Immerhin gibt es an diesem Ort neben Aufforderungs-Hinweisplakaten noch humorvolle Darstellungen.

Für die inhaftierten Jugendlichen sind mit der Seelsorge viele Hoffnungen verbunden, was ich als Seelsorger für sie alles erreichen kann. Allgemein wird erwartet, dass sie einen Menschen mit Verständnis und Mitgefühl antreffen. Der Vertrauensvorschuss, dass der Seelsorger der Schweigepflicht unterliegt, ist kostbar und schutzbedürftig. Das Gefängnis ist mit all den harten Geschichten ein Ort der permanenten Krise, wo Gefangene und Bedienstete, oft unter Anspannung arbeiten und leben. Eine kollegiale Atmosphäre und die hohe Eigenverantwortlichkeiten der Bediensteten und Abteilungen sowie soziale Maßnahmen mit den Inhaftierten entspannen merklich.

Gegenüber den Tätern, Bediensteten und Angehörigen nehme ich als Seelsorger meine Aufgabe als aktiver Gesprächspartner und Weg-Begleiter wahr. Ich lasse mich auf den Menschen mit seiner Geschichte, mit seinen bis jetzt gemachten guten wie negativen Erfahrungen und seinen Hintergründen ein. Ich versuche Gegenüber mit all meinen Stärken und Schwächen auf einer Grundebene des Verstehens zu sein, ohne die Opfer und Geschädigten von Straftaten ausblenden zu wollen. Seelsorge ist für mich die Sorge um den ganzen Menschen, der „mehr“ ist, als gängige Trends aussagen, gesellschaftliche Verhältnisse wieder spiegeln oder das zugängliche Bewusstsein eines Menschen zeigen. Seelsorge ist für mich zugleich Sozialarbeit, das einem Menschenbild entspricht mit einer Gotteserfahrung des Zugewandtseins in den Lebensgeschichten und Abgründen.

Meine Person des Seelsorgers ist das Medium der Seelsorge: Die Fähigkeit, mit Themen von Schuld, Strafe, Leid, Versöhnung und Zuspruch umzugehen bedeutet, mich stets weiterzubilden und die supervisorische Begleitung wahrzunehmen. Jugendlichen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Prägungen, mit bekenntnisfreien oder auch magisch angehauchten Glaubensvorstellungen zu begegnen braucht meinen angemessenen Umgang mit Ohnmacht und Macht, mit Sprachlosigkeit und aktiver Intervention sowie vermittelnder Tätigkeiten angesichts versteckter und geäußerter Erwartungen von „außen“ und „innen“.

Michael King | JVA Herford

 

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