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In Fantasie habe ich das eine oder andere Ding gedreht

14. November 2020

Ich habe schon immer einen Zug nach unten gehabt, oder nach außen. Außenseiter haben mich immer schon angezogen. Schon in jungen Jahren konnte ich schlecht an einem Bettler vorbei gehen. Seine ausgestreckte Hand hat mich berührt, sein Leid mir leid getan. Um zu Gefangenen in das Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg zu gehen, musste ich morgens kein Opfer bringen. Ich war gerne bei ihnen. Was ist es, was mich zu Menschen hinzieht, die andere abstoßen? Wie kann ich mich wohl fühlen unter Kriminellen? Das mag kein gutes Licht auf mich werfen, aber in mir steckt auch eine Menge krimineller Energie.

In meiner Fantasie habe ich auch schon das eine oder andere Ding gedreht, eine Bank überfallen. Und ich habe auch schon ein paar Leichen im Keller. Aber aufgrund meiner Sozialisation und Erziehung sind bei mir Sicherungen und Bremsen eingebaut, die mich daran hindern, mein kriminelles Ich auszuleben. In manchem Straftäter begegne ich meinem nicht-gelebten Leben. Und das kann durchaus anziehend sein. Manche Tat mag noch so verwerflich sein, sie zeigt aber, wozu wir Menschen fähig sind. Kinderschänder, Frauenmörder sind keine Bestien, sondern Menschen. In ihre tiefsten Abgründe zu schauen, hat nicht nur etwas Furchterregendes, sondern auch etwas Faszinierendes.

In meinem eigenem Ich gefangen

Vielleicht hat das Gefängnis mich auch so angezogen, weil ich mein eigenes Leben als ein Gefangen sein erlebe. Ich bin in meinem Ich gefangen. Ich sitze auch im Käfig. Aber wenn das so ist, warum zieht es mich dann noch zu anderen Gefangenen hin? Gehe ich zu den Inhaftierten, um aus meiner eigenen Zelle herauszukommen? Solche Fragen mögen fremd erscheinen, aber es sind wohl nicht nur edle Motive, die mich dazu bewogen haben, 17 Jahre lang jeden Tag neu für die Inhaftierten da zu sein. Ein wichtiger Beweggrund, die Inhaftierten in ihren Zellen aufzusuchen, war für mich sicher auch Jesus. So wie der Freund der Sünder wollte auch ich unvoreingenommen auf die  Gefangenen zu gehen, ohne Berührungsangst, und ohne die Absicht, sie bekehren zu wollen. Ich selbst bin durch die sogenannten Gottlosen  Jesus näher gekommen als durch mein Theologiestudium. Bei meinen Zellenbesuchen habe ich Jesus selbst sagen hören: „Ich war gefangen, und du bist zu mir gekommen.“ (Mt 25,36)

Die Begegnung mit Ausgestoßenen lässt uns selbst mit anderen Augen sehen. Die Menschen hinter der Mauer erinnern uns daran, dass auch unser Leben anders hätte verlaufen können. Es ist nicht unser Verdienst, dass wir sogenannte anständige Bürger geworden sind. Wir haben mehr Glück gehabt als andere. Hätte mein Vater mich grün und blau geschlagen, wäre meine Mutter auf den Strich gegangen, wäre ich vielleicht Zuhälter geworden. Theologie hätte ich sicher nicht studiert. Auch wenn wir draußen vor der Mauer leben, sind wir dennoch auch gefangen. Unser Unvermögen hält uns gefangen. Wir können nicht aus unserer Haut. Unsere Zellen sind zwar viel größer und schöner als die der Inhaftierten und wir haben alle möglichen Getränke im Kühlschrank. Und wir haben sogar ein eigenes Auto, um über den Gefängnishof zu fahren. Aber frei sind wir nicht – trotz all unserer Ausbruchsversuche. Da mögen wir noch so weit fliegen, fliehen. Am Ende finden wir uns wieder eingesperrt in unserem Ich.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge bin ich Anfang 1992 vom „Tränenberg“ gegangen und war froh keine Mauern und Gittern mehr zu sehen. Aber auch draußen stoßen Menschen auf Mauern, die manchmal noch schwerer zu überwinden sind als Gefängnismauern. HIV-Infizierte und Aidskranke  Frauen und Männern  leben hinter unsichtbaren Mauern.  Ihr Gefängnis ist gebaut aus Steinen der Angst, Angst, dass „es“ herauskommt, Angst vor dem Zeigefinger der Nachbarn, Angst vor dem Gerede der Leute.

Ausgeschlossen aus der geschlossenen Gesellschaft

Hinter unsichtbaren Gittern sind viele junge Menschen in ihrer Sucht gefangen. Rund um die Uhr sind die auf der Jagd nach dem Stoff, aus dem die Träume sind. Sie sehnen sich nach dem Paradies. Um high zu sein müssen sie sich selbst jedes Mal wehtun. Manche müssen sich stundenlang in die Venen stechen, brauchen zehn bis zwanzig Nadeln, bis sie endlich treffen. Die Droge, die das Leben erträglich machen soll – zerstört es gleichzeitig.  Jeder Süchtige möchte aus seinem Gefängnis ausbrechen. Sie machen eine oder mehrere Therapien.  Es gibt viel zu wenige Therapieplätze, so dass manche Drogensüchtige sterben, während sie noch auf der Warteliste stehen. Nicht wenige sind eine Zeitlang clean, aber irgendwann werden sie doch wieder rückfällig. Fixer, Junkies, Aidskranke, Obdachlose , Bettler .. Menschen am Rande – sagen wir in der Mitte. Dabei sind wir selbst außenstehende Betrachter.

In den 30 Jahren bei den Menschen am Rande ist mir klar geworden: Viele Menschen sterben mitten unter uns den Tod vor dem Tod. Darunter auch psychisch Kranke. Sie trauen sich nicht aus dem Haus, weil die Leute ihnen Angst machen. Der soziale Tod ist oft noch schmerzlicher als der medizinische. Der Tod ist nicht nur der Exitus, der Ausgang aus dem Leben. Mitten im Leben erfahren Menschen den Tod. „Für uns bist du gestorben“, bekommen Obdachlose, Drogenabhängige, Straftäter von den Eltern und Geschwistern gesagt. „Für uns bist du gestorben.“ Der Tod ist mehr als ein biologisches Phänomen. Wir Menschen sterben nicht erst am Lebensende, wir sterben nicht nur am Tod allein. Mitten unter uns sterben Männer und Frauen langsam weg. Sie gehen in ihren eigenen vier Wänden buchstäblich ein. Manche liegen wochenlang, wenn nicht schon seit Monaten tot in ihrer Wohnung, ohne dass jemand sie vermisst. Nur der überfüllte Briefkasten macht Nachbarn aufmerksam, dass da etwas nicht stimmt. Manchmal kriechen schon die Maden unter der Tür hervor.

Inneres Gefängnis

Vereinsamung, auch selbstgewählte Einsamkeit kann einen Menschen genauso umbringen wie eine heimtückische Krankheit. Viele Frauen und Männer bringen sich selbst langsam um, durch Drogen oder Alkohol, jeden Tag ein bisschen mehr. Menschen graben ihr eigenes Grab, geben selber sich den Tod. Manche sind so verzweifelt, dass sie am Ende keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich selbst zu erlösen. Bei den Hinterbliebenen bleiben quälende Schuldgefühle zurück. Die gefühlte Schuld ist wie ein inneres Gefängnis, aus dem der Ausbruch nur schwer gelingt. Inzwischen bin ich schon seit vielen Jahren in Rente, aber immer noch begleite ich Trauernde an der Grenze zwischen Leben und Tod. Ich stand schon über tausend am Sarg oder vor der Urne von einem Menschen und habe auf dem Gottesacker schon vieles erlebt. Beim Abschied des geliebten Menschen verlieren viele die Fassung. Da musst du auf einiges gefasst sein.

Petrus Ceelen

 

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