“Armenhof“, so hieß die Siedlung, in der ich als Kind gewohnt habe. Der Name ist Programm. Wir waren arm und meine Eltern konnten nicht lesen und schreiben. Und trotzdem sind sie irgendwie klar gekommen. So wie es die meisten lese- und schreibunkundigen Menschen tun. Mir erschienen diese Menschen sogar oft schlauer und gewitzter, als die Menschen die das ABC konnten. Mit 10 Jahren, weiterhin lese- und schreibunkundig, bin ich dann in ein Kinderheim gekommen. Es sollte nicht das Letzte sein.
Weil es mir dort nicht gefiel, bin ich abgehauen. Um nach Hause zu kommen bin ich zum Bahnhof gegangen, um dort nach Möglichkeit mit dem Zug zu meinen Eltern zu fahren. Keine gute Idee, denn ich wurde schnell gesucht und gefunden. Was ich nicht wollte, aber andere, die größer waren als ich haben das anders gesehen. Das Abhauen und geschnappt werden wurde zu meiner Gewohnheit und ich kam so innerhalb einer kurzen Zeit von einem zum anderen Heim. Wenn ich dann mal länger in einem Heim war, musste ich auch in die Schule. Wirklich gelernt habe ich da nichts. Auf der Straße habe ich mich von einem Ort zum andern durchgefragt. Mit 12 Jahren habe ich verstanden, dass wenn ich lesen kann, ich die Ortsschilder und Landkarten verstehe. So kann ich mich sicherer fortbewegen, um eben nicht so schnell geschnappt zu werden.
Bildungshunger wurde größer
Die Karten bzw. Atlanten, habe ich mir in Autos „besorgt“. Damals hatten die meisten Autobesitzer einen Atlas im Wagen. Wenn in dem einen keiner war, dann halt im nächsten. So ging mein Leben, bis ich 14 Jahre alt war weiter. Heime, Straftaten und Festnahmen. Mit 14 Jahren war ich dann im Strafmündigenalter und es hat nur 3 Monate gedauert bis ich das erste mal ins Gefängnis kam. Lesen konnte ich mittlerweile ganz gut. Mit dem Schreiben hatte ich noch Schwierigkeiten. Zeit zum Üben hatte ich ja genug und ich habe die Zeit genutzt. Mein Bildungshunger wurde immer größer und mit der Zeit habe ich mir ein gutes Allgemeinwissen angelesen. Das Schreiben gelang mir mittlerweile so gut, dass ich anderen beim Formulieren und schreiben an Behörden helfen konnte. Das hat mein Ansehen innerhalb der Subkultur erheblich verbessert. Es gibt zwei Dinge, die im Gefängnis Ansehen verschaffen, Gewalt und Bildung. Wobei juristische Kenntnisse bevorzugt werden. Aus verständlichen Gründen. Jahrzehnte später habe ich mehrfach Literaturpreise für Inhaftierte erhalten und ich konnte allerlei Beiträge hier und da platzieren. Lesen und Schreiben gewann an Bedeutung in meinem Leben.
Gefängnis Teil meines Leben
Petrus Ceelen wundert sich, welche Bedeutung geschriebene Worte haben. Wenn wir uns diese erst mal angeeignet haben, erschließt es uns die Möglichkeit – im wahrsten Sinne der Worte – Luftschlösser zu bauen. Wir engen uns selbst ein, wenn wir unseren Sprachschatz klein halten. Anreichern können wir ihn gerade im Gefängnis, weil wir dort „unendlich“ viel Zeit haben. Das Gefängnis ist nun mal Teil meines Lebens und die Betrachtungen erfolgen aus meinem Blickwinkel. Diesen Schatz anzureichern ist nur möglich mit Lesen, Schreiben, Radio und Fernsehen. Wobei ich beim Fernsehen skeptisch bin. Fernsehen hat für mich generell ein niedriges Sprachniveau. Es sei denn, dass es sich um die Kultursender oder das öffentlich-rechtliche Fernsehen handelt.
Von anderen abhängig
Die meisten, glaube ich, machen sich über das Lesen und Schreiben gar nicht so viele Gedanken, warum auch? Aber stell Dir mal vor, Du bist in einem geschlossenen Raum und das größtenteils Deines Lebens. An einem Ort wo du zu 100 Prozent von anderen abhängig bist. Wo du keine Verbindung zu den Menschen hast, die dir wichtig sind. Nach denen Du dich sehnst, die Du nicht verlieren willst. Wir wissen, dass wenn Kontakte „einschlafen“, sie irgendwann „tot“ sind. Man ist und wird sich selbst fremd. Selbst wenn es sich um nahe Angehörige handelt. Die Kontaktmöglichkeiten sind begrenzt. Besuch, Telefon und Schreiben. Der Besuch hängt von den Möglichkeiten des Besuchers ab und das Telefonieren vom Geld und den Möglichkeiten, die Dir die die Anstalt anbietet. In der Sicherungsverwahrung ist es anders. Dort sind die meisten Kontakte aber schon in der Strafhaft gestorben.
Wer schreiben kann, kann sich wehren
Bleibt das Schreiben. Der wirkliche Lebensfaden nach draußen. Aber im Schreiben steckt noch mehr. Es kann dir Würde, Achtung und Respekt verschaffen. Wer schreiben kann, der kann sich wehren. Nicht umsonst gibt es Worte wie „Schreiberling“, oder Querulant für Gefangene oder Verwahrte, die sich schriftlich gegen die Vollzugsbehörde wehren. Menschen, die sich ausdrücken können, schriftlich oder sprachlich, gelten im Gefängnis als „gefährlich“. Als ich einmal von einer Station zu einer anderen verlegt wurde, hat man den dort Zuständigen gesagt, dass man bei mir aufpassen müsse, „Der schreibt alles auf.“ Ob das stimmte mag dahingestellt sein. Alle Veränderungen, und ich glaube das kann man schon so sagen, sind im Gefängnis durch die Schreiberei erfolgt.
Schreiben lebensotwendig
Auf privater Ebene können schriftliche Worte aber auch sehr tröstlich sein, wie Petrus Ceelen erfahren hat. Gedichte, Geschichten oder Berichte können hier und da sehr hilfreich sein. Hier ist die Wirkkraft der Bibel nicht zu unterschätzen. Und dabei spielt es meiner Ansicht nach keine Rolle, ob der Leser ein gläubiger Mensch ist oder nicht. Ich glaube, dass wenn ein Mensch einen guten Kern hat, egal unter welcher Fahne, wird Gott das erkennen. Es ist immer wieder für mich erstaunlich, dass die Worte in der Bibel, obwohl sie so alt sind, immer noch zeitgemäß sind. Das zeigen die Denk-Zettel von Petrus, da wird jeder Text mit einem Bibelzitat belegt.
Für mich ist es mittlerweile unvorstellbar, ohne das schriftliche Wort leben zu können. Mittlerweile muss ich eine Brille tragen. Es ist eine schlimme Vorstellung für mich, nicht mehr lesen und schreiben zu können. Es ist für mich hier im Gefängnis lebensnotwendig. Es ist die Verbindung nach draußen. In der Anstalt drinnen geht nichts ohne schreiben. Anliegen und Wünsche erfolgen nur per Antrag. Und selbst ein Entlassungsgesuch muss immer schriftlich eingereicht werden. Ich werde oft gebeten zu helfen. Leider gibt es immer noch eine Million Menschen in Deutschland, die lese- und schreibunkundig sind. Ich bin gut und sicher aufgehoben. Wer an mich herantreten will. muss des Schreibens kundig sein. Wie hieß noch mal ein Slogan der Post? „Schreib mal wieder“. In diesem Sinne, auf ein Wort, ein Brief oder eine Karte.
Helmut P. | SV-Abteilung JVA Diez