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In den Gefängnissen von Hongkong inhaftiert

24. März 2019

Der Schweizer reformierte Theologe Tobias Brandner betreut im Auftrag des Basler Hilfswerkes „mission 21“ in Hongkong Gefangene als Seelsorger. Er erzählt von unmenschlicher Isolationshaft. „Arbeit an der Hoffnung“ ist sein Leitsatz. Stanley, Südseite der Insel Hongkong, ruhiger Wohnort der Oberschicht, am Südrand ist das grösste Gefängnis Hongkongs. In der hintersten Ecke des riesigen Areals der Block 6 mit 240 Zellen, zur Hälfte von Gefangenen in Einzelhaft bewohnt.

Von Zelle zu Zelle gehend, schaue ich durch das vergitterte Loch in die Zelle, grüsse hinein, komme mir als Eindringling vor in das kleine, etwa 4 bis 5 m² Fleckchen Privatheit und denke, trotzdem ist diese Form des Kontakts besser als die völlige Isolation von der Aussenwelt. Und wieder höre ich von Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Wut auf die Menschen draussen, Wut auf sich selbst. Und das Wort von Jesaja kommt mir in den Sinn: „Das Volk, das in der Finsternis wandelt, sieht ein grosses Licht; die im Lande des Dunkels wohnen, über ihnen strahlt ein Licht auf.“ Die Worte des Propheten hallen in meinem Kopf wider – so wie die Rufe zwischen den Zellen im Gebäude widerhallen, welche gegen die Eintönigkeit und Isolation der Einzelhaft erschallen. Bei jeder Zelle, bei der ich länger stehen bleibe, suchen meine Augen das Gegenüber gegen die störenden Gitterstäbe festzuhalten, welche das Gesicht des Gefangenen in Einzelteile zerlegen. Auf und ab wandern meine Augen, immer dem Gitter zwischen unseren Augen ausweichend.

Vergebung und Neuanfang

Fragen nach Vergebung, Reuegefühle, Suche nach Neuanfang: schwere, religiös beladene Fragen, die an anderen Orten kaum zu erwarten, ja als Fremdkörper wirken würden: Hier begegnen sie mir als Selbstverständlichkeit. Ich treffe auf Thang, aus Vietnam – im Gefängnis wegen eines Morddeliktes vor etwa 15 Jahren in einem der vietnamesischen Flüchtlingszentren hier in Hongkong. Er ist zu „lebenslänglich“ verurteilt, in Einzelhaft wegen disziplinarischer Schwierigkeiten und Arbeitsverweigerung. Er hatte während seiner Haft vor einigen Jahren einen Unfall – oder war es eine Schlägerei? Seither ist er praktisch stumm. Lebt in sich zurückgezogen, von der Aussenwelt abgeschirmt. Die Einzelhaft scheint ihm egal. Er würde auch in der Gruppe isoliert sein. Reden kann ich mit ihm kaum. Stattdessen gebe ich ihm meine Hand, er knetet sie, wie als Ersatz für die ausbleibenden Worte.

In Einzelhaft ohne Kontakte

Isolationshaft 23 Stunden pro Tag sind die Gefangenen dieses Blockes eingeschlossen, eine Stunde Hofgang. Wer in Einzelhaft ist, ist dies aus disziplinarischen Gründen, weil er gegen die Gefängnisordnung verstossen hat, oder zu seinem Schutz, etwa Polizisten oder Sexualdelinquenten, welche im Normalvollzug dem Druck der anderen Insassen ausgesetzt wären, auch andere Delinquenten, welche im Normalvollzug in illegale Geldspiele verwickelt waren und Schulden gemacht haben, die sie nicht mehr zurückzahlen können. Es ist bekannt, dass Menschen, die mehr als einige Wochen in Isolationshaft verbringen, schwere Persönlichkeitsveränderungen erleiden können. Deshalb haben viele Länder versucht, die Zeit in Einzelhaft zu beschränken. Hier treffe ich auf Leute, die für Monate oder sogar Jahre weggeschlossen werden. Sie haben kaum Gelegenheit, mit der Welt ausserhalb in Kontakt zu treten.

Menschenrechte anders gesehen

Wenn ich „draussen“ nach dem Leben im Gefängnis gefragt werde, kommt immer wieder auch die Frage: Wie es denn sei, seit Hongkong im Jahr 1997 an China zurückgegangen ist? Verändert hat sich seit dem Übergang an China in den Gefängnissen nichts. Aber Verschlechterung ist kaum nötig in einem Gefängnissystem, wo so wenig Hoffnung besteht. Menschenrechtsverletzung – ein so grosses Wort, eine Frage der Definition: Geschieht sie nicht im ordentlichen, legalen Widersinn eines Systems, das Leute wegschliesst und den Insassen den Eindruck vermittelt, den Schlüssel wegzuwerfen, sie sich selbst zu überlassen?

Geschieht Menschenrechtsverletzung nicht dort, wo nichts gegen die zerstörerischen Abhängigkeiten von Spielsucht und Intrigen unternommen wird, in denen sich Inhaftierten gegenseitig festhalten? Hier im Gefängnis sammelt sich, wer den Verlockungen des Geldwahns in Hongkong verfallen ist und nur auf illegalem Weg zu dem zu gelangen meinte, was ausserhalb des Gefängnisses als gesellschaftlicher Erfolg gepriesen wird. Hier treffe ich auf Leute aus der untersten Schicht Hongkongs. Ist nicht ein Wirtschaftssystem wie Hongkong, welches solche Gegensätze zulässt, eine krasse Verletzung des Rechts auf würdige Existenz?

Chinas besondere Misere

Die Gefängnisse Hongkongs mit jenen im übrigen China zu vergleichen ist schwierig, da über das Gefängnisleben in China kaum etwas in die Aussenwelt dringt. Die besondere Misere von Chinas Gefängnissen liegt in dem, was dem Gefängnis vorausgeht, in einem mangelhaften Justizsystem: in der Todesstrafe, oder darin, dass die Todesstrafe für eine grosse Zahl von Delikten, nicht nur für Gewaltdelikte, ausgesprochen wird; etwa in der fehlenden politischen Unabhängigkeit der Justiz oder in der mangelhaften Rechtsberatung für Angeklagte; etwa in der Verbreitung von körperlicher Misshandlung von Untersuchungshäftlingen und der mangelnden Unschuldsvermutung gegenüber Angeklagten und natürlich in dem System des laogai, von Arbeitslagern, Orten der Umerziehung durch Arbeit, wohin Insassen als Administrativmassnahme ohne Gerichtsurteil verbannt werden können.

Lange Haftstrafen ohne Vorbereitung

Auch wenn das Leben in China und damit auch in den Gefängnissen generell ärmer ist als in Hongkong – das Leben in einem Hongkonger Gefängnis ist jedoch nicht besser als in einem Gefängnis auf der anderen Seite der Grenze: Die mangelnden Anstrengungen des Systems, Insassen eine Ausbildung und eine Perspektive zukommen zu lassen; die Trennung von der Familie und von anderen sozialen Bindungen, welche einen Neuanfang ausserhalb des Gefängnisses erst recht schwie- rig machen; die Lieblosigkeit, mit der Inhaftierte behandelt werden, etwa das seit Jahrzehnten gleiche Essen; die Unterwerfung und Disziplinierung von Unangepasstheit; die im internationalen Vergleich sehr langen Haftstrafen, vor allem bei Drogendelikten, und das Fehlen einer Vorbereitung auf die Zeit nach der Haft. Ich kenne Inhaftierte in Hongkong, die nach mehr als 20 Jahren Haft ohne einen einzelnen Tag Urlaub plötzlich wieder draussen stehen.

Arbeit an der Hoffnung, das ist, was wir machen. Ohne Hoffnung zu leben, ist das schlimmste. Das Volk, das in der Finsternis wandelt, bricht auf – gegen alle Widrigkeiten feiern wir auch im Gefängnis Gottesdienst, singen an gegen die Dunkelheit, singen gerne, kraftvolle Männerstimmen, hören gemeinsam auf die Stimme des Propheten und sprechen aus, was uns in Bezug auf die Zukunft ängstigt.

Tobias Brandner | Magazin der Schweizer Kaputziner

 

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