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Herausfordernde Worte eines Bischofs: „Zu viele Gefangene…“

22. September 2022

Wie Mauro Palma, der nationale Beauftragte Italiens für die Rechte der Gefangenen, in Erinnerung rief, befinden sich in Italien fast 4.000 Personen in Haftanstalten, die zu weniger als zwei Jahren verurteilt wurden. Sie leben in der ungewissen Lage einer leeren Zeit: „Ein Gefängnisaufenthalt ist eine vertane Zeit, wenn er nur eine Einschränkung darstellt und keine Zeit der Versöhnung ist“, sagt der Kurienerzbischof Vincenzo Paglia.

Tatsächlich hatte Palma bereits vor einiger Zeit Alarm geschlagen und auf die „Aufweichung“ einer Kultur hingewiesen, die gerade im „schrittweisen Zugang zu alternativen Maßnahmen ein Element der Stärke beim Aufbau eines Weges zur Wiedereingliederung“ sieht. Diesmal erinnerte der Beauftragte zunächst an das dramatische Problem der Selbstmorde, bei dem sich leider nichts zu bewegen scheint, und dann an die tragische und illegale Überbelegung der Gefängnisse. Diesbezüglich sagte er: „[…] Das ist mit Sicherheit ein Problem. Es ist ein Dauerbrenner, die Zahlen steigen wieder an. Ich muss sagen, dass ein weiteres, sehr ernstes Problem die Nutzlosigkeit von Gefängnisstrafen ist. Etwa 1.300 Personen verbüßen Haftstrafen von weniger als einem Jahr und etwa 2.500 Personen Haftstrafen zwischen einem und zwei Jahren. Für diese Menschen ist die Zeit völlig leer. Sie sind oft dort, weil sie keine Wohnung oder keinen Rechtsbeistand haben, oder weil sie ganz allgemein in Armut leben. Wenn wir sie in andere territoriale Überwachungs- und Betreuungsstrukturen bringen könnten, würde das auch die Überbelegungszahlen senken.“

Graffiti an der Kirche St. Theodor im Brennglas der Stadtteils Köln-Vingst.

Biblische Tradition unmissverständlich

Covid-19 hatte dies bereits ans Licht gebracht. Die Pandemie hat zu einer 130-prozentigen Auslastung der Haftanstalten geführt, d. h. zu einem Zuwachs von 10.200 Personen. Man könnte dem zustimmen, was jemand kürzlich sagte, dass dies „die“ Gefängnisfrage in Italien aufgedeckt hat. Dieses Recht auf Gesundheit, das ein unveräußerliches öffentliches Gut ist, wird den Gefangenen verweigert. Warum bemisst das Christentum nicht nur dem Besuch, sondern sogar der Freilassung von Gefangenen eine ungewöhnliche Bedeutung? Das ist sicherlich eine provokante Formulierung. Und ich für meinen Teil denke, dass sie aufgegriffen werden sollte, um die anstoßerregende Kraft des Christentums in dieser Hinsicht nicht abzumildern. Die Wurzeln liegen bereits in der biblischen Tradition des Messias, der als derjenige gesehen wurde, der kommt ,„um blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und die im Dunkel sitzen, aus der Haft“ (Jes 42,7). Kurz gesagt, die Befreiung der Gefangenen berührt den eigentlichen Inhalt der biblischen Botschaft. Schon die Tradition des Jubeljahres bedeutete die Aufhebung von Ungerechtigkeiten: Alle 50 Jahre sollten alle wieder neu anfangen, auch die Gefangenen, um gemeinsam mit allen eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Barmherzige Behandlung der Gefangenen

Ich erinnere mich noch an Professor Valdo Vinay, einen großen Waldenserpastor und -professor, der die Gnade der Erlösung mit dem Beispiel eines staatlichen Gesandten erklärte, der in eine Todeszelle geht und allen zuruft: „Ihr seid alle begnadigt!“ „Dies“, so meinte er, „ist das Evangelium, die frohe Botschaft Gottes an die Menschen.“ Deshalb legen die Christen großen Wert auf eine barmherzige Behandlung der Gefangenen. Sie kommt aus der Erklärung des Evangeliums selbst. Die prophetische Ankündigung der Freilassung von Gefangenen ist eine Provokation und als solche klingt sie in Vinays Worten nach. Ihre Tragweite muss zunächst im globalen Horizont der Menschheitsgeschichte und ihrer eigentlichen Zielrichtung gewürdigt werden. Die Gefangenschaft, die Einschränkung der Freiheit, die Trennung von der Gemeinschaft, kann nicht als Vorwegnahme des Weltgerichts verstanden werden, das allein Gott vorbehalten ist. Verbrechen verletzen – manchmal sogar tödlich – die Würde und den Frieden des menschlichen Zusammenlebens. Das kann nicht ignoriert werden. Die Einschränkung der Freiheit und der Teilhabe, die zu den Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens gehören, hat mit Opfer und Sühne zu tun, was einen ethischen Sinn hat, und gerade deshalb muss sie auf die Wiederherstellung und Wiedergutmachung und die Versöhnung mit der Gemeinschaft ausgerichtet sein. Problematisch wird es, wenn die Modalitäten und Auswirkungen dieser Einschränkung unverhältnismäßig oder sogar widersprüchlich erscheinen.

Die Ausmaße dieser Diskrepanz zeigen, global betrachtet, immer noch ein Bild von Zwang und Demütigung, das dem sehr nahekommt, wofür die biblischen Propheten im Namen Gottes Worte der Verheißung und Mahnungen zu Gerechtigkeit aussprechen. Es handelt sich um die Verbannten, die Verfolgten, die Sklaven. Vergessen wir nicht, dass in der ganzen Welt Tausende und Abertausende von Menschen inhaftiert und versklavt sind, nur weil sie eine andere politische Meinung, eine andere Religionszugehörigkeit, eine andere ethnische Herkunft oder einen anderen sozialen Status haben. All dies sind Gründe, die, womöglich im Verborgenen, auch in juristischen Kontexten wirken können, die uns entwickelter erscheinen und Spielräume für Vergesslichkeit, Gleichgültigkeit und Repression bieten, die wenig oder nichts mit tatsächlicher Schuld zu tun haben.

Ermahnung Teil einer Antwort

Das christliche Wort von der „Befreiung der Gefangenen“, das jenes der biblischen Propheten aufgreift, wird zu einer Warnung vor jeder vorgeschobenen Rechtfertigung von Zwang und vor jeder unverantwortlichen Bereitschaft zur Demütigung. Seine Übersetzung in das Gebot, „Gefangene zu besuchen“, steht symbolisch für den Willen, die Kultur der Bestrafung ethisch zu überwachen, aktiv an Rehabilitationsprozessen teilzunehmen und eine Kultur der Versöhnung zu fördern. Jesus, der sich entschieden mit den Gefangenen identifiziert, macht daraus ein Thema des „Gerichts“, das uns direkt betrifft: „Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ Diese Ermahnung ist Teil seiner Antwort auf die Frage, was man tun muss, um des „ewigen“ Lebens würdig zu sein. Deshalb schrieb schon der Apostel Paulus: „Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen“ (Hebräer 13,3).

Ist das übertrieben? Ich glaube ja. Allerdings stellt die Kühnheit dieser Übertreibung in ihrer konkreten christlichen Auslegung eine prophetische Anregung für eine menschliche Gesellschaft dar, die diesen Namen auch verdient. Wie können wir also ohne diese Übertreibung die Widersprüche einer Gesellschaft vermeiden, die gerecht, aber nicht legalistisch, ethisch, aber nicht moralistisch sein will? Die Kirche hat den Besuch bei den Gefangenen in die Liste der „Werke der leiblichen Barmherzigkeit“ (d.h. wirksam, konkret, sichtbar) aufgenommen: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Pilger aufnehmen, Kranke besuchen, Gefangene besuchen, Tote begraben. Alles sehr aktuell. Diese Worte geben uns den Traum von einer humanen Gesellschaft zurück, in der Solidarität und Mitgefühl herrschen, weit entfernt vom maßlosen Egoismus und dem gnadenlosen Desinteresse, die unsere Städte allzu oft kennzeichnen.

Über den Dächern des Kölner Doms: Restaurierte Skulpturen neben traditionellen Figuren…

Fromme Illusion?

Bei meinen historischen Studien über Gefängnisse stieß ich auf Bischof Sacanarolo, der im 17. Jahrhundert für die päpstlichen Gefängnisse zuständig war und sagte, er habe noch nie erlebt, dass ein junger Gefangener das Gefängnis in besserem Zustand verlassen habe, als er es betreten habe. Dies ist vielleicht auch heute noch der Fall. Ja, Nutzlosigkeit: Das ist eine Frage, die sich auf ein grundlegendes Problem bezieht. In unserem System sollte das Gefängnis eine erzieherische Funktion haben. Es sollte ein Zeitraum sein, in dem die inhaftierte Person die Möglichkeit zum Nachdenken hat und sich wieder vollständig in die Gesellschaft integrieren kann. Ein Hirngespinst, eine (fromme) Illusion in dieserus Situation und in dieser historischen Epoche? Vielleicht. Aber wir können auch diese Provokation hinzufügen. Erscheint uns die Freiheit zur Selbstbestimmung, derer wir uns zu Recht rühmen, automatisch in der Lage zu sein, die bürgerliche Gesellschaft von der Ungerechtigkeit durch Ungleichheit, Einsamkeit und Korruption zu befreien?

Sie war nie so tiefgreifend war wie in dieser streng reglementierten Zeit. Kurz gesagt, ohne die übertriebene Beharrlichkeit des Guten ist die Lebensqualität nicht einmal in kleinen Schritten zu erreichen. Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht vom Justizwesen der Staaten, das ein Konzept erfordert, das an die Grenzen und Möglichkeiten der politischen Vermittlung des Rechts gebunden ist. Ich möchte nur die christliche Tradition hervorheben, die ununterbrochen den Besuch von Gefangenen predigt, eine Anregung, die ein wirksames Netz von Schutzmaßnahmen und Praktiken hervorbringt, die auf einen humaneren Zustand der Gefangenen abzielen, wie die vielen freiwilligen Vereinigungen wissen, die sich dafür einsetzen, die Einsamkeit, den Entzug der persönlichen Freiheit, die Isolation und die Stigmatisierung der Gefangenen zu lindern.

Über Strafe und Buße hinaus…

Schon der Name, den wir den Gebäuden geben, nämlich „Zuchthäuser“, deutet auf das Thema der Buße hin. Und das zu Recht. Aber das Evangelium geht weiter, über Strafe und Buße hinaus. Natürlich hat der Staat seine eigenen Rechtssysteme, Gesetze und Regeln und das zivile Zusammenleben beruht auf der Einhaltung der Regeln und der Sicherstellung der Bestrafung sowie auf einer Justiz, die nicht rachsüchtig, sondern gut geregelt ist. Das ist alles richtig. Aber man muss sich über die eventuelle „Nutzlosigkeit des Haftaufenthalts“ wundern, wie der Beauftragte für die Rechte der Gefangenen selbst sagt. In zu vielen Fällen wird die Strafe zu einer doppelten: Zum Entzug der persönlichen Freiheit kommt das Vergessenwerden hinzu, das Hineingeworfensein in eine leere Zeit, die es nicht erlaubt, den Gedanken der Wiedereingliederung anzuwenden, der der Gesetzgebung eines modernen und zivilisierten Staates zugrunde liegt.

Werk der Barmherzigkeit

Papst Johannes XXIII. besuchte am 26. Dezember 1958, kurz nach seiner Wahl, das Gefängnis Regina Coeli in Rom. Und er sprach von seinen persönlichen Erfahrungen: „Als ich von St. Peter hierher kam, erinnerte ich mich an den ersten Eindruck, den ich als Junge hatte, als einer meiner guten Verwandten, ein junger Mann, ohne Jagdschein auf die Jagd gegangen war: Er wurde von den Carabinieri erwischt und eingesperrt. Und einen Monat lang drinnen behalten. Was für ein Eindruck beim Anblick, beim vielleicht ersten Anblick von Carabinieri damals! Und dann dieser arme Mann im Gefängnis! Und die Phantasie, die kleine Phantasie, wie sie arbeitete! In einem gut geordneten Leben gibt es Gesetze, Vorschriften, die natürlich mit einer Sanktion verbunden sind. Und wer unter sie fällt, auch wenn er keine schlechte Absicht hatte, der muss sie erleiden.“ Und dann fuhr er fort: „So, da wären wir. Ich bin gekommen. Ihr habt mich gesehen. Meine Augen haben in eure Augen gesehen. Ich habe mein Herz nahe an euer Herz gelegt. Diese Begegnung wird mir sicher in Erinnerung bleiben. Und das zu Beginn des neuen Jahres, ich würde sagen auch zu Beginn des ersten Jahres meines Pontifikats, wie man es nennt, und ich freue mich sehr, dass es tatsächlich ein Werk der Barmherzigkeit ist. Nach diesen Worten gebe ich euch den Segen, denn er ist immer noch das Zeichen, das Symbol dessen, was der Herr uns durch sein Sakrament der Liebe gegeben hat. Und ich möchte, dass er eine Ermutigung für alle ist.“

Einsamkeit mildern

„Ich habe Dir in die Augen geschaut“ ist eine Redewendung, die betont werden soll. Es gibt eine Dimension tiefer Beziehungen zwischen Menschen, eine Dimension des Verstehens und der Vergebung, die über die strafrechtliche Frage hinausgeht und tief in jedem Menschen verankert ist. Dies ist die Richtung, die Johannes XXIII. und die nachfolgenden Päpste eingeschlagen haben (man denke an Johannes Paul II., als er seinen Angreifer im Gefängnis besuchte). Der Besuch von Gefangenen nimmt weder Schuld noch Strafe weg; er berührt die Seelen derjenigen, die ihn empfangen, und derjenigen, die ihn ausführen. Gleichzeitig trägt der Besuch dazu bei, dass das Gefängnis weniger unmenschlich ist und zu einem Ort der Veränderung wird, was die Beziehungen und somit die Menschen betrifft. Besuche können auch durch den Austausch von Korrespondenz, durch Formen der Nähe zu den Familien, durch eine ganze „Phantasie der Nächstenliebe“ erfolgen, die den Bereich ausmacht, in dem sich die Kirche ausdrücken kann und sich auszudrücken vermag. Diesen Bereich brauchen wir heute dringend. Warum also nicht die Formen der Hilfe und der Solidarität zu den Strafvollzugsanstalten und zu den konkreten Männern und Frauen im Gefängnis verstärken? Warum sollte die Einsamkeit nicht gemildert werden, damit sie nicht zu einer zusätzlichen Strafe wird, zu einer Strafe innerhalb einer Strafe? Warum nicht Wege des Kontakts und der Nähe finden und erfinden, sei es durch traditionelle Formen des Schreibens oder durch Online-Verbindungen? Dahinter muss ein wahrhaft menschlicher Gedanke stehen, der die Absonderung zu einer Zeit macht, die der vollständigen Wiedereingliederung dient.

Wir sollten uns die Worte von Johannes XXIII. zu eigen machen: „Ich habe euch in die Augen geschaut.“ Es ist die Beziehung zwischen den Menschen, die „rettet“, die eine echte innere Veränderung möglich macht. Es ist Aufgabe von Politik und Verwaltung, sie für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar zu machen.

Artikel von Kurienerzbischof Vincenzo Paglia über die Haftsituation in Italien in der Zeitschrift Il Riformista. Deutsche Übersetzung: Doris Schäfer

 

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