Mit mehreren veröffentlichen Beschlüssen vom 17. und 18. September 2019 (2 BvR 1165/19, 2 BvR 681/19, 2 BvR 650/19) hat das Bundesverfassungsgericht drei Verfassungsbeschwerden von langjährig Inhaftierten stattgegeben und die angegriffenen Beschlüsse zur erneuten Entscheidung an die betroffenen Landgerichte zurückverwiesen.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen in allen Fällen die Gewährung von Vollzugslockerungen. Die Inhaftierten hatten jeweils Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit beantragt, nachdem ihre Haft sieben, zwölf beziehungsweise vierzehn Jahre andauerte. Die betroffenen Vollzugseinrichtungen hatten die Anträge abgelehnt. Diese Entscheidungen hatten auch nach der gerichtlichen Überprüfung durch die jeweiligen Oberlandesgerichte Bestand.
Die Richter der 2. Kammer des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe kassierten diese Entscheidungen jetzt. Sie stellten klar, dass das Gebot, die Lebenstüchtigkeit Gefangener zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann greife, wenn sich bereits negative Auswirkungen bemerkbar machten. Das aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes abgeleitete Grundrecht auf Resozialisierung verpflichte den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Strafgefangenen ein künftig straffreies Leben zu ermöglichen. Speziell bei langjährig Inhaftierten erfordere dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken.
Ausfluss dieses Grundsatzes, so die Verfassungsrichter, sei der Umstand, dass der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde lege. Durch die darin vorgesehenen Vollzugslockerungen solle Gefangenen die Chance eingeräumt werden, den Nachweis eines veränderten Verhaltens zu führen, um so zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen.
Selbst wenn die Voraussetzungen für unbegleitete Vollzugslockerungen wegen einer konkreten Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht gegeben seien und noch keine Entlassungsperspektive bestehe, sollten zumindest Ausführungen ermöglicht werden. Der von der Vollzugseinrichtung angenommenen Flucht- und Missbrauchsgefahr sei durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenzuwirken.
Wegen der besonderen Bedeutung des Resozialisierungsgebots, entschied das Gericht, dürfte die Versagung von Vollzugslockerungen und insbesondere von Ausführungen nicht auf pauschale Wertungen oder eine abstrakte Flucht- oder Missbrauchsgefahr gestützt werden. Die Vollzugseinrichtung habe vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Gründe darzulegen, die geeignet sind, eine prognostizierte Flucht- und Missbrauchsgefahr zu konkretisieren. Im Falle einer solche Entscheidung hätten die Fachgerichte zu prüfen, ob die unbestimmten Rechtsbegriffe der Flucht- oder Missbrauchsgefahr richtig ausgelegt und angewandt worden seien und die Ermessensentscheidung auf der Grundlage eines vollständig ermittelten Sachverhalts erfolgt sei.
Diesen Grundsätzen, so die Richter, hätten die drei angegriffenen Entscheidungen nicht entsprochen. Sie hätten folglich keinen Bestand haben können. In allen drei Fällen seien die Gerichte von der Annahme ausgegangen, dass das Gebot, die Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen, erst dann greife, wenn Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation zeigten. Diese Annahme sei falsch, weil dann bereits die Beeinträchtigung der Lebenstüchtigkeit vorliege, obwohl durch die dargestellte Form des Resozialisierungsgrundsatzes einer solchen Beeinträchtigung gerade vorgebeugt werden solle. Dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse der Beschwerdeführer nach langjährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der Vollzugsanstalten zukam, haben die Gerichte nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend Rechnung getragen.
Friedhelm Sanker | BSBD nrw