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Haben Inhaftierte Chancen auf gelingendes Leben?

18. Oktober 2019

Als Vater eines inhaftierten 28-jährigen Sohnes bin ich vielleicht befangen, sehe ich den Strafvollzug vielleicht nicht objektiv. Als ehemaliger Gefängnisseelsorger, der heute über sechs Jahre nicht mehr in einer JVA arbeitet, habe ich möglicherweise keinen Einblick mehr in die aktuelle Situation in den Gefängnissen. Durch Kontakte zu einigen Inhaftierten, die ich seinerzeit betreut und begleitet habe, bekomme ich das eine oder andere aus der Situation im Knast mit.

Anfang 2019 ist ein drogenabhängiger ehemaliger Klient von mir aus der Haft entlassen worden. Die Entlassungsvorbereitung bestand darin, dass er ein bisschen Geld für die ersten Tage in der Freiheit mitbekam und seine kärgliche Habe. Keine Unterkunft, keine Arbeitsstelle. Dieser Mann hat zwei Monate auf der Straße vom Betteln gelebt, dann hat er über Bekannte eine Bleibe in einem Wohnwagen gefunden, jetzt lebt er wieder auf der Straße. Ob er noch im Methadonprogramm ist, weiß ich nicht.

Mein Sohn hat bis zu seiner letzten Inhaftierung vor zwei Jahren nie eine Lehre gemacht oder einen Beruf gelernt, hat nie länger als ein paar Wochen oder Monate eine Aushilfstätigkeit ausgeübt. Zwar verfügt er über den Hauptschulabschluss, aber weitere Versuche, die Fachoberschulreife zu erlangen, sind im Sande verlaufen. Natürlich ist er mit verschiedenen Drogen in Kontakt gekommen. Natürlich hat er seinen Finanzbedarf nicht auf legalem Wege befriedigt. Natürlich haben wir Eltern ihm immer wieder mit Geldzuweisungen aus der Patsche geholfen. Seine Beziehungen zu Frauen haben immer unglücklich oder im Streit geendet. Jetzt steht er ganz alleine da. Seine früheren Freunde und Kumpels haben den Kontakt längst beendet. In den nächsten Wochen soll er wieder in den offenen Vollzug verlegt werden. Erfährt er dort die Begleitung, die er benötigt, um die Schule oder eine Ausbildung durchzuhalten? Im offenen Vollzug ist er ja selbständig und selbstverantwortlich, wenn er über Tag die JVA verlässt, um zur Schule oder zur Ausbildungsstelle zu fahren und dort zu bleiben.

Die wenigen Besuchszeiten, die ein „normaler“ Strafgefangener hat, der nicht ein lebenslänglich verurteilt ist, sind mit zwei Stunden, verteilt auf zwei Besuche im Monat, nicht geeignet, die sozialen Kontakte aufrechtzuerhalten. Wenn die (ehemalige) Partnerin ein Kind von dem Gefangenen hat und diese nicht möchte, dass das Kind ins Gefängnis muss, um seinen Vater kennen zu lernen oder den Kontakt zu seinem Vater zu halten, wächst das Kind halt ohne seinen Vater auf. Aus meiner Erfahrung gibt es viel zu wenige Besuchsdienstbeamte, zu wenige Sozialarbeiter, zu wenige Psychologen und zu wenige schulische Angebote in den Gefängnissen, als dass auch die älteren Gefangenen wirklich einen zukunftsfähigen Schulabschluss machen könnten. Auch Ausbildungsstellen für einen Beruf, mit dem sie draußen eine Chance hätten, sind rar.

Ein Gefängnisseelsorger, der die Haftraumtür öffnet.

Wer als Inhaftierte/r keine Arbeit hat und auch nicht an einer schulischen Maßnahme teilnimmt, ist den ganzen Tag „auf Zelle“. Er bzw. wartet sehnsüchtig auf die Freistunde, auf den Umschluss, auf die eine Stunde Sport in der Woche und auf den Gottesdienst am Wochenende. An den Wochenenden ist bereits um 14 Uhr oder um 15 Uhr Einschluss. Dann läuft nichts mehr bis zum nächsten Morgen. Gut, wer dann wenigstens einen Fernseher „auf Zelle“ hat! Gut vielleicht auch, wenn man „auf Zwei-Mann-Zelle“ ist! Post, wenn sie denn ankommt, ist oft der einzige persönliche Kontakt von draußen.

Inhaftierte, die durch eine frühkindliche Traumatisierung, durch Beziehungsabbrüche oder durch Drogenkonsum aus der Bahn geworfen wurden, die durch einen längeren oder durch mehrere Gefängnisaufenthalte nicht über eine vorzeigbare Biographie verfügen, benötigen von Haftanfang an therapeutische Unterstützung. Mir ist klar, dass jede Therapie freiwillig erfolgen sollte, damit sie für den oder die Inhaftierte hilfreich sein kann. Aber solche therapeutische Begleitung ist in der Untersuchungshaft gar nicht vorgesehen und in der Strafhaft auf bestimmte Justizvollzugsanstalten begrenzt.

Die SeelsorgerInnen und – wo es sie gibt – die Sport- und die FreizeitbeamtInnen tun ihr Bestes, um möglichst vielen Gefangenen eine Gesprächsgruppe oder eine Freizeitgruppe anzubieten. Gut, wer dafür genehmigt wird! Schlecht, wer eine Trennung hat oder sonstige Sicherheitsbedenken bestehen! Die SeelsorgerInnen sind die einzigen, die zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, die einzigen, wo die Inhaftierten ihre Sorgen, ihre Nöte und ihre Schuldgefühle offen ansprechen können. Aber was ist das für so viele bedürftige Menschen?! Viele Inhaftierte werden unter derartigen Haftbedingungen depressiv. Wen wundert’s?

In der Öffentlichkeit und selbst in der eigenen Familie findet sich häufig die Einstellung, der oder die Gefangene sei an seinem bzw. ihrem Schicksal selbst schuld: „Er oder sie hätte ja nicht straffällig werden brauchen“. Gefangene haben keine Lobby. In der Politik nicht und auch in der Kirche nicht. Die Zahl der Stellen für GefängnisseelsorgerInnen wird in den nächsten Jahren mit Sicherheit verringert, im Angesicht des sich für 2030 abzeichnenden Personalmangels und der Bevorzugung der Gemeindeseelsorge. Das Ziel der Strafvollzugsgesetzte, den Gefangenen darin zu unterstützen, dass er nach seiner Haftentlassung ein straffreies Leben führen kann, wird im aktuellen Strafvollzug meist verfehlt. Die Gefangenen werden weitgehend allein gelassen und sich selbst überlassen.

Robert Eiteneuer

Zum Autor: Robert Eiteneuer ist Pastoralreferent im Erzbistum Köln und hat von 2005 bis 2013 als Gefängnisseelsorger in Köln-Ossendorf gearbeitet. Er ist Vater von sechs angenommenen Kindern. Eines davon sitzt seit November 2017 ein und ist nach kurzen Unterbrechungen im offenen Vollzug zurzeit wieder im geschlossenen Vollzug untergebracht.

 

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