Als sich im Sommer 1989 die Ausreiseproblematik in der DDR dramatisch verschärfte, machte sich dies auch im Strafvollzug deutlich bemerkbar, denn viele DDR-Flüchtlinge, die über die ČSSR oder Ungarn in den Westen fliehen wollten, wurden bereits im Grenzvorland oder an den Grenzübergangsstellen aufgegriffen und verhaftet. „Die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen § 213 StGB-DDR (ungesetzlicher Grenzübertritt) stieg sprunghaft an.“ Tausende DDR-Bürger hatten die bundesdeutsche Botschaft in Prag besetzt. Als ihnen eine straffreie Ausreise zugesichert worden war, sollten die hierfür eingesetzten Sonderzüge über die DDR umgeleitet werden und am 4. und 5. Oktober Dresden passieren.
Am dortigen Hauptbahnhof versammelten sich 20.000 Menschen und es kam zu dramatischen Szenen und zahlreichen Festnahmen. Aber auch die Bürgerproteste in Ost-Berlin oder Plauen rund um den Staatsfeiertag am 7. Oktober führten zu Verhaftungen. Die Einlieferung von Demonstrierenden in die Haftanstalten hatte jedoch zur Folge, dass sich die Gefangenen mit ihnen solidarisierten und viel mehr noch, dass die Proteste der im ganzen Land begonnenen Friedlichen Revolution nun in den Strafvollzug „überschwappten“, wie beispielsweise in der Strafanstalt Bautzen I nach der Ankunft der Demonstranten vom Dresdener Hauptbahnhof. In den Gefängnissen kam es schließlich zu ersten Protesten, ausgehend von den Republikflüchtlingen, „die sich über ihre ungerechte Behandlung im Vergleich zu den Botschaftsflüchtlingen beklagten.“ Die Staatsführung entschloss sich, ein Ventil zu öffnen und am 27. Oktober 1989 eine teilweise Amnestie zu erlassen. Diese betraf aber nur diejenigen, die wegen versuchter Republikflucht inhaftiert waren. Es ist daher allzu verständlich, dass sich die nicht von der Amnestie erfassten Häftlinge ungerecht behandelt fühlten. „Viele von ihnen waren wegen politischer oder ideologischer Strafnormen inhaftiert, die ebenso fragwürdig waren wie § 213 StGB-DDR.“
Die weitere Entwicklung in den Strafvollzugsanstalten spitzte sich im Laufe des „Wende“-Herbstes dramatisch zu. Ende November und Anfang Dezember 1989 kam es in fast allen Strafvollzugseinrichtungen der DDR zu Arbeits- und Hungerstreiks. Aus Sicht der obersten Gefängnisverwaltung war die Lage im gesamten ostdeutschen Strafvollzug „sehr ernst“ . Nachdem am 1. Dezember in der Volkskammer ein Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses zu Korruption und Amtsmissbrauch vorgetragen wurde, reagierten die Häftlinge empört. Die korrupten ehemaligen SED-Funktionäre waren in Freiheit, während sie selbst, so die Auffassung vieler von ihnen, die viel geringere Taten begangen hatten, weiter einsitzen mussten. Im größten Gefängnis der DDR in Brandenburg-Görden eskalierte die angespannte Lage noch am selben Tag. Zum Nachmittag streikten 993 der 2.192 Insassen und jeder Dritte von ihnen verweigerte auch die Nahrungsaufnahme. Ihre dringlichste Forderung war die einer sofortigen Pressekonferenz. Denn die Herstellung von Öffentlichkeit bedeutete einerseits einen Einblick der Außenwelt in die unwürdigen Zustände des Strafvollzugs und andererseits, dass die Gefangenen sich mit ihren Anliegen Gehör verschaffen konnten. In Windeseile wurde noch am selben Nachmittag für 16.00 Uhr eine Pressekonferenz organisiert. Ein Gefangenensprecher verlas einen Forderungskatalog. Neben dem Abbau der Überbelegung und einer Verbesserung der Lebensbedingungen wurde eine umfassende Amnestie sowie eine Überprüfung der Urteile verlangt, denn im Gegensatz zur Bundesrepublik fielen die Strafmaße für vergleichbare Delikte in der DDR deutlich höher aus und waren nicht selten politisch gefärbt.
Bei dieser eilig einberufenen Pressekonferenz wurde eine Fortsetzung für den 5. Dezember angekündigt, bei der dann über 40 DDR-Journalisten kamen. Den ganzen Tag verbrachten sie in der Anstalt – ein bis dahin „beispielloser Vorgang“. Am Vormittag konnten die Journalisten neben Anstaltsleiter Udo Jahn auch den Leiter der VSV, Generalmajor Wilfried Lustik, befragen. Außerdem nahmen noch die beiden Gefängnisseelsorger, der hauptamtlich angestellte Eckart Giebeler und der katholische Pfarrer Johannes Drews, auf dem Podium Platz. Auf die Frage zur Gefängnisseelsorge behauptete Giebeler, dass diese „schon immer gut möglich“ gewesen sei. Dies konnte Drews „so nicht stehen lassen und tat kund, dass [ihm] nur Gottesdienste erlaubt [wurden] und alles andere trotz [seiner] Bemühungen nicht möglich“ war. Auf Nachfrage nach dem Grund dieser Ungleichbehandlung versuchte Lustik sich „zweimal herauszureden“ und schwieg dann „auf hartnäckiges Weiterfragen.“ Schließlich rettete Jahn die Situation für seinen General und bot Drews ein Ende dieser Einschränkungen und sich selbst als konkreten Ansprechpartner an.
Nachmittags gab es eine Führung durch alle gewünschten Bereiche durch Gefangenenvertreter sowie Gespräche mit Insassen und Bediensteten. Die gewonnenen Eindrücke waren erschütternd. Zum Schluss konnten 100 ausgewählte Gefangene im Kinosaal der Anstalt ihre Anliegen aber auch ihre konkreten Schicksale vortragen. Überraschend wurde „von den Strafgefangenen ein Vertreter der Kirchen ans Mikrophon gebeten.“ Pfarrer Drews trat nach vorn und „ergriff das Wort, [er] signalisierte [s]eine Verbundenheit und erklärte [s]ich bereit für jeden Gefangenen, der es wünscht, Gesprächspartner zu sein.“ Bei der Pressekonferenz sprachen die Häftlinge auch von Übergriffen ihrer Bewacher und nannten entsprechende Namen. Gegen mehrere Offiziere wolle man Strafanzeige stellen. Dem Gefängnisleiter Udo Jahn hingegen sprachen die Gefangenen mehrfach das Vertrauen aus. Erst am Abend verließen die Journalisten nach nahezu zehn Stunden Besichtigung und Gespräche die Anstalt.
In der Woche nach der Pressekonferenz kam es am 13. Dezember 1989 zu einem längeren Gespräch zwischen Anstaltsleiter Jahn und dem katholischen Seelsorger. Drews erhielt nun nicht nur mehr Freiheiten der seelsorglichen Wirkmöglichkeiten, sondern eine ganze Liste an Wünschen und Erwartungen, beispielsweise bei der Suizidprävention, bei dem Kontakt zu Angehörigen und der Resozialisierung. Die Veränderungen in der katholischen Gefangenenseelsorge waren gravierend. Zu seinen Gottesdiensten kamen nun über 60 Häftlinge. Mindestens zweimal in der Woche kam Drews in die Haftanstalt. Mittwochabends bot er eine Gesprächsrunde zu „Glaubens- und Lebensfragen“ an, bei der Themen zur Sprache kamen, die im DDR-Strafvollzug bisher „ein absolutes Tabu waren“. Beispielsweise die Frage nach Schuld. Hierzu kamen auch Nichtchristen und er machte die Erfahrung, dass „gerade im Knast“ das „religiöse Bedürfnis besonders hoch“ war. Jeden Donnerstag lief er „den ganzen Tag durch die Zellenhäuser und besuchte Gefangene, egal ob sie katholisch waren oder nicht“.
Auch in der Haftanstalt Bautzen I, es war nach Brandenburg-Görden das zweitgrößte Gefängnis in der DDR und hieß im Volksmund aufgrund seiner gelben Klinkerfassade das „Gelbe Elend“, hatten sich seit dem 1. Dezember 1989 die Ausstände ausgeweitet. Ein sich inzwischen gebildetes Streikkomitee forderte neben einer Pressekonferenz ausdrücklich auch den Kontakt zur Bürgerbewegung vom „Neuen Forum“ und zu den Kirchen. Damit setzten die Gefangenen ihre Hoffnung auf politisch und staatlich unabhängige Akteure. In den folgenden Tagen stimmten die evangelische und katholische Kirchenleitung in Sachsen ihr Vorgehen gemeinsam ab. Am 2. Dezember fuhren der evangelische Oberkirchenrat Volker Kreß und der Dresdner Weihbischof Georg Weinhold nach Bautzen, wo sie am Nachmittag gemeinsam mit den beiden zugelassenen Gefängnisseelsorgern, dem evangelischen Pfarrer Frieder Wendelin und dem katholischen Pfarrer Josef Kuschnik, die Haftanstalt besuchten. Es folgten Gespräche mit der Gefängnisleitung, dem Streikkomitee und am frühen Abend eine Pressekonferenz mit einem Rundgang durch die Anstalt. Nur widerwillig wurde den Journalisten und den Geistlichen auch der Zugang zum verschärften Arrest im Keller eines der Haftgebäude gewährt. Es handelte sich dabei um eine in der DDR einzigartige Isolationshaft, in der Gefangene unter besonders unwürdigen Bedingungen lange Strafen verbüßen mussten und psychisch gebrochen werden sollten. Die Besichtigung dieses Gefängnistraktes „hinterließ angesichts der dort herrschenden dramatisch schlechten Haftbedingungen einen tiefen Eindruck.“ Ein Geistlicher sagte hinterher: „Das erinnert an die finstersten Epochen der deutschen Geschichte.“ Zwei Tage später berichtete Weihbischof Weinhold von seinen Erlebnissen in Bautzen auf der planmäßigen Sitzung der Berliner Bischofskonferenz. Das veranlasste die katholischen Bischöfe zu einer öffentlichen und deutlichen Stellungnahme. Darin forderten sie u.a. „die sofortige Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission.“
Die Öffnung des Gefängnisses für die katholischen und evangelischen Seelsorger machte der Anstaltsleitung, die befürchten musste, angesichts der Proteste die Kontrolle über die Strafvollzugseinrichtung zu verlieren, eines deutlich: Sie war auf die Hilfe der Kirchen angewiesen. Täglich kamen nun Gefängnisseelsorger, um beruhigend auf die Häftlinge einzuwirken. Abends sprachen sie im Hof und richteten sich an die Gefangenen, die dafür extra auf jene Zellen gebracht wurden, von wo aus sie den Pfarrer sehen und zuhören konnten. Bis zum 6. Dezember spitzte sich die Lage immer stärker zu. Neben dem Arbeitsstreik wurde vor allem der ebenso durchgeführte Hungerstreik gefährlich. Aufgrund der rund 60 inhaftierten Diabetiker, die inzwischen auch das Spritzen von Insulin verweigerten, rechnete die Anstaltsleitung binnen Stunden mit den ersten Toten. Sie wandte sich hilfesuchend per Fernschreiben an den Innenminister und appellierte verzweifelt, endlich eine Amnestie-Entscheidung der Staatsführung herbeizuführen.
Der katholische Dompfarrer Rudolf Kilank kam in dieser angespannten Situation in die Anstalt, um zwischen Streikkomitee und Leitung zu vermitteln. Nach „kontroversen, zum Teil sehr nervösen Auseinandersetzungen“ konnte ein Durchbruch erzielt werden: Die schwersten diabetischen Fälle sollten in Krankenhäuser außerhalb der Anstalt gebracht werden. Direkt im Anschluss ging Kilank in den Gefängnishof und richtete sich über die Lautsprecheranlage an alle Inhaftierten, wie er später berichtete: “So stand ich zehn Minuten später im strömenden Regen und sprach die […] genannten Beschlüsse. Dabei wurde ich zweimal von Sprechchören ‹Generalamnestie› unterbrochen. Ich überbrachte auch die Grüße von Bischof Reinelt und Weihbischof Weinhold sowie der evangelischen Kirche und versicherte, dass die Berliner Bischofskonferenz Beschlüsse gefasst und an die Regierung geleitet habe, die in etwa ihren Forderungen entsprächen. Außerdem verwies ich auf viele Kranke in der Stadt und in den Dörfern, die in diesen Stunden für alle Inhaftierten beten würden. Ich bat sie, einander anzunehmen, auf Gewalt zu verzichten, und versicherte, dass die Kirche alles für sie tun würde, was möglich sei.” Am frühen Abend wurde über den Rundfunk eine teilweise Amnestie des Staatsrates verkündet. Diese betraf jedoch nur die Häftlinge mit einem Strafmaß unter drei Jahren. Die Häftlinge reagierten darauf empört, angesichts ihrer überhöhten Urteile. Erst als in den kommenden Tagen die Zusage durch Ministeriumsvertreter kam, dass die Urteile umfassend überprüft werden würden, beruhigte sich die Lage.
Am 5. Januar 1990 konstituierte sich die von der Berliner Bischofskonferenz geforderte Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des katholischen Gefangenenseelsorgers Manfred Ackermann. Neben Kirchenvertretern und JuristInnen waren darin auch Mitglieder der VSV, der Generalstaatsanwaltschaft sowie des Justizministeriums vertreten. Die Initiatoren der katholischen Kirche versuchten mit dieser Zusammensetzung nicht nur einen unabhängigen Blick von außen auf die Verhältnisse im Strafvollzug zu garantieren. Sondern indem sie verantwortliche Akteure vom Innenministerium und Justiz mit an einen Tisch holten, gewährleisteten sie auch einen Gestaltungsspielraum für Veränderungen im Vollzugssystem in Zeiten sich wandelnder Machtverhältnisse. Damit war diese Untersuchungskommission von den in der Umbruchszeit 1989/90 entstandenen Initiativen, die sich mit dem Strafvollzug beschäftigten, „die einzige, in der Vertreter der staatlichen Organe unmittelbar mitwirkten.“ Die Kommission beschäftigte sich mit dem Thema Urteilsüberprüfung sowie insbesondere mit den allgemeinen Bedingungen und konkreten Zuständen in den Haftanstalten. Darüber hinaus war es erklärtes Ziel, auch konkrete Empfehlungen für Veränderungen zu erarbeiten. So wurden im März 1990 die militärischen Umgangsformen beseitigt und die Gefängnisseelsorge auch seitens der VSV dahingehend liberalisiert, als dass die zentrale staatliche Bestätigung entfiel, seelsorgliche Gespräche ohne Bewachung erlaubt und die Teilnahme an Gottesdiensten allen Gefangenen ungehindert ermöglicht werden sollten.
Die Urteilsüberprüfungen zogen sich jedoch hin. Unmittelbar vor der Deutschen Einheit kam es somit in verschiedenen Gefängnissen der DDR nochmals zu Protestaktionen. Noch immer saßen Häftlinge mit überhöhten und politisch gefärbten Urteilen ein. Sie hatten Angst, im Wiedervereinigungstaumel vergessen zu werden. So hatten am 19. September 1990 in Brandenburg-Görden, als Pfarrer Drews mit mehr als 40 Häftlingen einen Gesprächskreis abhielt, vier Gefangene das Dach der Anstalt besetzt. Auch in Rummelsburg und Bautzen kam es zu ähnlichen Protesten. In den darauf folgenden Tagen blieb Drews fast ununterbrochen bei den Dachbesetzern, um die Inhaftierten in ihren Anliegen nach gerechteren Urteilen zu unterstützten und stellvertretend für sie eine Fürsprecherrolle gegenüber politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit wahrzunehmen. So trug er gemeinsam mit seinem evangelischen Amtskollegen aus Bautzen, Frieder Wendelin, die Anliegen der Häftlinge sogar vor dem Volkskammerpräsidium vor – die Volkskammerpräsidentin war in den letzten Monaten der DDR zugleich Staatsoberhaupt. Ein allgemeiner Straferlass wurde zwar nicht gewährt, jedoch sollten im wiedervereinigten Deutschland unabhängige Kommissionen mit westdeutschen JuristInnen an der Spitze gebildet werden, die sich dann den Überprüfungen widmen sollten.
Dr. Martin Fischer , Theologische Fakultät der Universität Erfurt | Aus: Seelsorge & Strafvollzug.ch, Nr. 5/2021
Dr. Martin Fischer, 1980, ist katholischer Theologe und Kirchenhistoriker. Er ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der katholischen Kirche in der DDR, ihr pastorales Handeln sowie ihre Rolle bei der Friedlichen Revolution. Zur Geschichte der katholischen Gefängnisseelsorge in der DDR erscheint 2021 von ihm eine Monografie in der Reihe “Erfurter Theologische Schriften” (Echter-Verlag Würzburg).
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Ich war selbst Strafgefangener zu dieser Zeit in der damaligen StvE Brandenburg und habe die Dachbesetzung wie die gesamte Wendezeit im Haftkrankenhaus gearbeitet und kann mich gut an diese Zeit erinnern und muss immer wieder sagen, gut das es damals für uns Pfarrer Drews gab. Er hat Mut gemacht, getröstet und viel geholfen. Ihr Artikel hat mich sehr berührt und diese ereignisreiche Zeit wieder auferstehen lassen.
Danke