Vor über 30 Jahren formuliert der damalige Anstaltsleiter der JVA Bruchsal im Jahr 1988 konkrete Erwartungen an einen Anstaltspfarrer. Die Gefängnisseelsorge aus Sicht eines Anstaltsleiters zeigt damals wie heute, wie wichtig der Fachdienst “Seelsorge” im Justizvollzug ist. Demgegenüber gibt es aber schnell Argumente, den Dienst des Gefängnisseelsorgers in Frage zu stellen. Die Gefängnisseelsorge ist eines der ältesten pastoralen Felder. Mit seiner ausgestatten Schweigepflicht und dem Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht gerät der “Knastpfarrer” oftmals in die Kritik. Das vorliegende Referat zeigt neben der ausgesprochenen Würdigung des Dienstes die Schwierigkeit, zwischen den Erwartungen von außen und seinem eigenem Seelsorgeverständnis zu agieren. Ob sich dies im Laufe der Jahre geändert hat?
Die weltlichen Kompetenzen des Pfarrers sind weitgehend auf andere MitarbeiterInnen übertragen worden und die Funktion des Seelsorgers [oder der Seelsorgerin] hat durch das nachlassende Interesse an religiöser Betreuung erheblich an Bedeutung eingebüßt. Mit Ausnahme der Weihnachts- und anderer besonderer Gottesdienste sind die Kirchen doch recht spärlich besucht. Der Pfarrer, der hauptamtlich in einer Vollzugsanstalt tätig ist, wäre mit der religiösen Betreuung wohl kaum ausgelastet. Nur so kann man verstehen, dass viele hauptamtliche Pfarrer in den Bereich der allgemeinen sozialen und psychologischen Betreuung hineindrängen. Man muss deshalb ernsthaft über die Frage nachdenken, ob der hauptamtliche Seelsorger in den Vollzugsanstalten heute noch notwendig ist oder ob nicht eine ausreichend religiöse Betreuung durch den Gemeindepfarrer möglich wäre.
Mitverantwortung für die Resozialisierung
Ich weiß wohl, dass dies in kleineren Vollzugsanstalten längst der Fall ist, meine aber, dass man diese Frage auch für die großen Anstalten stellen sollte. Das soll natürlich nicht heißen, dass wir den Pfarrer nicht bräuchten. Wir brauchen ihn, vor allem aber dann, wenn er unseren Erwartungen weitgehend entspricht. lch als Anstaltsleiter sehe als zweitwichtigste Funktion eines Pfarrers nach der Seelsorge für die Gefangenen die Öffentlichkeitsarbeit. Delinquentes Verhalten ist das Ergebnis einer Interaktion von Täter und Gesellschaft. Dies wird unentrinnbar zur Mitschuld oder weniger emotional ausgedrückt zur Mitverursachung und somit zur Verantwortung der Gesellschaft für die Delinquenz und für die Delinquenten. Es ist wesentlich einfacher, den Straftäter mit seiner Schuld allein zu lassen, als sich ihm tatsächlich zuzuwenden.
Unsere bundesrepublikanische Gesellschaft, die von sich behauptet, dass sie den Traditionen des christlichen Abendlandes verpflichtet sei, nimmt es mit dieser Mitverantwortung nicht besonders genau. Nach wie vor sieht die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung als wichtigstes Ziel des Strafens die Abschreckung. Nur 15 % glauben, dass ein richtiger Verbrecher umerzogen werden kann. Über 70 % aller Bundesbürger lehnen einen Strafentlassenen als Freund ab oder gar als Schwiegersohn ab. 65 % lehnen es ab, dass ein Strafentlassener im selben Haus wohnt und 47 % lehnen Strafentlassene als Arbeitskollegen und etwa gleichviel als Nachbarn in der gleichen Siedlung ab. 80 % der Befragten sind der Meinung, dass die Straftäter zu weich angefasst werden.
Der Unterschied zwischen Wort und Werk wird an einer anderen Antwort deutlich: 60 % der Befragten sind der Meinung, man müsse dem Entlassenen helfen. Die Betonung liegt hier auf dem Wörtchen ,,man”. Man, d.h. jedenfalls nicht ich, sondern irgendwelche Organisationen, Kirche, Staat usw. Nur 10 % der Befragten haben sich dahingehend geäußert, dass sie einen Strafentlassenen selbst aktiv helfen wollen. Zieht man hier noch die Lippenbekenntnisse ab, bleibt ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Gesamtbevölkerung. Die Untersuchungsergebnisse werden von Maelicke in seinem Aufsatz „Möglichkeiten und Grenzen der Resozialisierung” in der Zeitschrift für Strafvollzug 1975, S.198, wiedergegeben. Die Untersuchung ist zwar schon über 10 Jahre alt, aber ich habe wenig Hoffnung, dass eine Wiederholung bessere Ergebnisse bringen würde. Solange unsere MitbürgerInnen nicht mehr Bereitschaft zeigen, dem Gefangenen bei seinen Resozialisierungsbemühungen zu helfen, fehlt es dem gesamten Strafvollzug an einem tragfähigen sozialethischen Fundament in der Gesellschaft.
Hier meine ich, hätte der Pfarrer die Verpflichtung, bei seinen Amtsbrüdern und den Gemeindegliedern ihre Mitverantwortung für die Resozialisierung der Strafgefangenen konsequent einzufordern. Dass dies mit außerordentlich viel Aufwand verbunden ist (lnformationsveranstaltungen, Anstaltsbesichtigung, Tagungen, Zeitungsartikel, Leserbriefe usw.), sollte keinen Pfarrer abschrecken. Die Öffentlichkeitsarbeit, die ich mit meinen Mitarbeitern betriebe, ist zwar auch sehr aufwendig, aber ich meine, dass der Erfolg in keinem Verhältnis zum Ertrag steht. Dies liegt ganz einfach daran, dass das Verhältnis zur Strafe und zum Strafgefangenen nicht vom Kopf her gesteuert wird. Es sind neben Gefühlen und Einstellungen, auch viel irrationales, was nur in einem vertrauensvollen Gespräch offenbart wird. Und solche Gespräche sind – so meine ich – einem Pfarrer, der doch das Vertrauen seiner Gemeindemitglieder genießt, sehr viel eher möglich, als z.B. einem Anstaltsleiter.
Gefängnisseelsorge gehört zum Führungsstab
Der Pfarrer, der in diesem Bereich nicht alle seine Möglichkeiten ausschöpft, macht sich mitschuldig am Rückfall der Gefangenen. Ich erwarte von einem Pfarrer darüber hinaus, dass er aktiv an der Gestaltung des Vollzuges, nicht nur im Einzelfall, sondern generell mitwirkt. Pfarrer haben eine akademische Ausbildung und gehören aus meiner Sicht zum Führungsstab einer Anstalt. Sie sollten über den rein seelsorgerischen Dienst hinaus an Organisationskonzepten ebenso mitwirken wie an der Erarbeitung der anstaltsspezifischen Behandlungs -, aber auch Sicherheitsstrategie. Der Pfarrer sollte sich nicht nur um seine Schäfchen kümmern. Wahrscheinlich liege ich richtig mit der Behauptung, dass diejenigen Insassen, die Seelsorge wünschen, längst in der Minderzahl sind. Dies nicht nur wegen des hohen Anteils an andersgläubigen Ausländern, sondern auch wegen des allgemeinen nachlassenden Bedürfnisses an seelsorgerlicher Betreuung. Bei uns in Bruchsal sind sonntags von 400 Gefangenen 20 bis 30 in der Kirche, an Weihnachten sind es 200, weil es da Pakete gibt. Sonst sind die Gesprächswünsche an die Pfarrer häufig nur Anträge auf soziale Hilfe im weitesten Sinne, z.B. Gesprächsvermittlungen, Telefongespräche mit der Ehefrau usw.
Hier bedarf es einer Aufgeschlossenheit für alle in der Anstalt Inhaftierten, unabhängig vom Bekenntnis. Wenn der Pfarrer sich nur von denjenigen in Beschlag nehmen lässt, die mit echten oder vermeintlichen religiösen Bedürfnissen auf ihn zukommen, dann gerät er unausweichlich in eine Isolation und verliert die Möglichkeit, den Vollzug insgesamt wirkungsvoll mitzugestalten. Der Pfarrer darf nicht als Solist agieren, sondern muss sich einbringen in die Entscheidungsgremien und darf sich auch nicht zieren, Stellungnahmen gegebenenfalls auch schriftlich abzugeben. Ich weiß wohl, dass er dies nicht muss, jedenfalls nicht nach der baden-württembergischen Regelung. Ich meine jedoch , dass die Stimme und das begründete Votum des Pfarrers bei der Entscheidungsfindung für viele Vollzugsmaßnahmen außerordentlich wichtig wäre. Er gerät durch eine solche Mitwirkung auch nicht zwangsläufig in Konflikt mit dem Beichtgeheimnis. lch erwarte vom Anstaltsseelsorger, dass er sich über die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen des Strafvollzuges informiert, dass er das Strafvollzugsgesetz auch tatsächlich einmal gelesen hat und auch die Verwaltungsvorschriften und insbesondere die für das jeweilige Haus geltenden Regeln nicht nur kennt, sondern sich auch daran hält.
Gegenseitig Gutes zutrauen
Das berufliche Selbstverständnis eines Pfarrers sollte dem nicht entgegenstehen. Das Kokettieren mit Unkenntnis oder das Beanspruchen von Sonderrechten richtet dort, wo es darauf ankommt, kooperativ und mit Teamgeist zu arbeiten, nur Unfrieden an. Das beginnt bei den Dienstzeiten und hört im ungünstigen Fall dort auf, wo sich der Pfarrer mit dem oder den Gefangenen gegen die Bediensteten oder gegen einzelne Vollzugsmaßnahmen solidarisiert. Der Pfarrer sollte attraktiv, freundlich, einladend und hilfsbereit sein. lch meine damit, dass er in den eh schon düsteren Vollzugsalltag Farbe und Licht hineinbringen soll, dass er für Bedienstete und Gefangene gleichermaßen ein Orientierungspunkt und ein Vorbild für Ausgeglichenheit und positives Denken sein soll. Der Pfarrer sollte loyal sein. Über diesen Punkt muss man reden, weil Loyalität ein außerordentlich vielschichtig diskutierter Begriff mit sehr schwammigen Grenzen ist. Ich möchte nur eine Bemerkung dazu machen. In einer Vollzugsanstalt muss zwischen denjenigen, die das Geschehen in der Anstalt bestimmen – und dazu zähle ich ohne jede Einschränkung den Pfarrer – ein Grundkonsens dahingehend bestehen, dass jeder jedem zugute hält, dass er ernsthaft darum bemüht ist, die Chancen des Gefangenen zu verbessern und dass ihm nichts ferner liegt als Willkür, Machtmissbrauch oder Schikane.
Dr. Harald Preusker
Der Artikel stammt vom damaligen Anstaltsleiter Harald Preusker. Nach Übernahme von Leitungsaufgaben in den Justizvollzugsanstalten Ludwigsburg, Ulm und Stuttgart übernimmt Dr. Harald Preusker im Jahre 1977 die Leitung der Justizvollzugsanstalt Konstanz und ab 1981 die Leitung der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. In diesen Jahren macht er aber auch berufliche Erfahrungen als Richter am Landgericht in Konstanz.
Seine Schwiegertochter war die Psychologin, die in der JVA Straubing als Geisel mehrfach vergewaltigt wurde. Sie hat sich ein paar Jahre später das Leben genommen. Der Täter saß nach der Tat einige Jahre in der JVA Bruchsal ein. Während seiner Zeit als Anstaltsleiter trifft Dr. Harald Preusker auf noch veraltete Strukturen, ein bundeseinheitliches Strafvollzugsgesetz mit neuen Behandlungsstandards ist noch nicht lange in Kraft. Es gelingt ihm für problematische Inhaftierte, die zur Mitarbeit bereit waren, neue Möglichkeiten der Öffnung nach außen zu schaffen. So entsteht das Modell des Langzeitbesuchs, welches nach und nach in vielen Anstalten umgesetzt wird, und heute sogar vor dem Hintergrund der Familienorientierung auch in Anstalten für kurzstrafige Gefangene Einzug gehalten hat. Auch für die Integration von zu lebenslangen Strafen verurteilte Gefangene setzt er sich ein.
1993 wird Dr. Harald Preusker Abteilungsleiter im sächsischen Justizministerium. Er ist während seiner beruflichen Laufbahn Mitglied der Expertenkommission für den Hessischen Strafvollzug, beteiligt sich an der Gründung des Ziethener Kreises im Jahre 2001, der sich unabhängig und überparteilich für kriminalpolitische Reformen einsetzte, und er arbeitet lange Jahre in der Redaktion der Fachzeitschrift „Forum Strafvollzug“ mit. 2005 verleiht die Universität Dresden Dr. Harald Preusker die Ehrendoktorwürde. Im Jahre 2008 tritt er in den Ruhestand.
Dr. Harald Preusker verstarb im Alter von 77 Jahren am 5. Dezember 2020.
Wenn man sich also gegenseitig nur Gutes zutraut, dann kann man über alles andere trefflich streiten. Der Pfarrer sollte auch für MitarbeiterInnen da sein. Er sollte sich Gedanken zur Berufsethik unserer Mitarbeiterschaft machen. Er sollte zur Krisenintervention bereit sein und vor allen Dingen an der Verbesserung der Motivation unserer Bediensteten mitarbeiten. Der Pfarrer sollte seine Arbeit transparent machen. Dies bedeutet, dass er in Konferenzen berichtet, dass er seine Pläne mit uns diskutiert, dass er keine vollendeten Tatsachen schafft. Der Pfarrer sollte auch dann nicht ungeduldig werden, wenn es in der Anstalt mit dem Behandlungsvollzug nicht so recht vorangeht. Auch wir Juristen machen ständig Fehler. Der Vollzug ist eine unendliche Geschichte von Fehlern. Das Strafvollzugsgesetz ist ein neues Gesetz. Und neue Gesetze schaffen – das lehrt die Geschichte – keine neue Rechtswirklichkeit. Die Umsetzung von geschriebenem Recht in die Praxis ist ein zermürbender, dornenvoller und unendlich langer Weg. Denken Sie doch bitte einmal daran, wie schwierig es ist, den Bediensteten das ,,Du” gegenüber Gefangenen abzugewöhnen.
Anstaltspfarrer „ein wirklicher Freund und Tröster”
Der Pfarrer sollte seine Verantwortung für die geistig-moralische Werterziehung der Insassen wahrnehmen. Hierzu zählt die Mitarbeit bei der inhaltlichen Gestaltung von Freizeitveranstaltungen. Er sollte darauf achten, dass den Gefangenen in Film und Literatur nicht nur Schund, sondern auch gutes, weiterführendes angeboten wird. Der Pfarrer sollte sich besonders der Themen Schuld, Sühne und Versöhnung unter Einbeziehung der Tatopfer annehmen. Ich möchte die lange Wunschliste mit einer Definition des Anstaltspfarrers schließen, die ein Kollege von lhnen 1894 niedergeschrieben hat. Danach ist der Anstaltspfarrer „ein wirklicher Freund und Tröster; die Aufgabe ist freilich eine schwere, sie erfordert einen Mann [oder eine Frau] von ernstem Charakter, wahrhaft christlicher Frömmigkeit und großer Menschenliebe.” Für den Juristen im Strafvollzug gilt die Bemerkung von Radbruch, dass ein guter Jurist nur ein Jurist mit schlechtem Gewissen sein kann. Ich füge hinzu, dass auch ein guter Pfarrer im Strafvollzug wahrscheinlich nur ein Pfarrer mit einem schlechten Gewissen sein kann, jedenfalls solange wir noch in einer unheilen Welt leben.
Harald Preusker, JVA Bruchsal, 1988 | Auszug aus: Seelsorge im Strafvollzug, Band 7