„Jeder Mensch befindet sich in einem endlos variierten Versuch, glücklich zu werden.“ Der Satz soll von Karl Barth stammen. Ganz unabhängig, ob er tatsächlich vom Giganten der dialektischen Theologie stammt: Der Aussage stimmen wir intuitiv zu, beziehungsweise hat ihr in all den Jahren, in denen ich dieses Zitat verwende, noch nie auch nur eine einzige Person widersprochen. Ebenso wahr und einsichtig ist die ergänzende Feststellung, dass dies bei weitem nicht immer gelingt oder pointiert formuliert: Lang nicht jeder Versuch glücklich zu werden, ist auch eine glückliche Wahl und so gehört das Scheitern zu einer geradezu fundamentalen Erfahrung des Lebens.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten begleite ich junge Menschen in prekären Lebensvollzügen, sei dies im Rahmen unserer sozial-diakonischen Angebote der www.streetchurch.ch oder als Gefängnisseelsorger in diversen Einrichtungen der Justiz. Diese unzähligen, teilweise jahrelangen Begleitungen haben gezeigt, dass Seelsorge vor allem dann als hilfreich empfunden wird, wenn die Begleitung jungen Menschen ermöglicht, ihr Leben und insbesondere auch ihr Scheitern im Kontext ihrer Biografie und ihres aktuellen Lebensbezugs zu verstehen und dank diesem Verstehen Veränderungen als notwendend zu erkennen und anzustreben. Das dafür nötige Vertrauen wird aufgebaut, wenn der junge Mensch spürt, dass seine Begleitperson sich in sein Leben und Erleben hineinnehmen lässt, also nicht nur fachlichen Rat bereithält, sondern sich durch erlittenes, aber auch verursachtes Leid selbst betreffen lässt. Im Folgenden versuche ich, aus diesen Erfahrungen einige fundamentale Einsichten in das Wesen der Seelsorge mit jungen Menschen festzuhalten.
Besonderheiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Straf- und Maßnahmenvollzug bezüglich möglicher Hintergründe
Die nachfolgend aufgeführten Merkmale sind bezeichnend für einen großen Teil der von mir begleiteten jungen Straftäter und werfen Schlaglichter auf mögliche Hintergründe der Jugenddelinquenz. Auf dem Hintergrund dieser Merkmale lassen sich sodann spezifische Verhaltensmuster verstehen, die von einer deutlichen Zurückhaltung bis hin zu Misstrauen gegenüber erwachsenen Bezugspersonen geprägt sind.
- Geringes Selbstwertgefühl: Dieses resultiert meines Erachtens maßgeblich aus einer bewussten oder auch nur diffusen Wahrnehmung von Defiziten gegenüber anderen Jugendlichen, die erfolgreicher sind.
- Desolate Familiensituation: Die sozialen und psychosozialen Gegebenheiten der Herkunftsfamilien müssen bei der überwältigenden Mehrheit der jungen Straftäter als desolat bezeichnet werden. Insbesondere unsichere Bindungen, oft bereits initialisiert aufgrund frühkindlicher Vernachlässigung oder beeinträchtigter Beziehungen zu den Elternteilen, aber auch aktuelle Beziehungskonflikte fördern destruktive Verhaltensmuster und Misstrauen gegenüber erwachsenen Bezugspersonen.
- Vernachlässigung/Misshandlung und Missbrauch: Der Anteil der von mir begleiteten Jugendlichen, die körperliche, seelische Vernachlässigung oder gar Misshandlungen und Missbrauch erlebt haben, ist erschreckend hoch, was wiederum maßgeblich zu den bereits erwähnten, selbst- und fremddestruierenden Verhaltensmustern und einem gesteigerten Misstrauen gegenüber Bezugspersonen beiträgt.
- Migrationshintergrund: Die Herausforderung oder auch Überforderungen der Integration, damit oft verbunden traumatische Erfahrungen im Herkunftsland sind wohl mitverantwortlich für den erhöhten Anteil straffälliger Jugendlicher mit Migrationshintergrund.
Schwache Schulleistungen: Späte Einschulung und die Herkunft aus tendenziell bildungsfernen Milieus führen zu negativen Schulerfahrungen und einer entsprechend erschwerten Integration in das duale Ausbildungssystem der Schweiz. Die Mehrheit der von mir begleiteten jungen Männer hat keine Lehre angefangen oder dann eine solche abgebrochen. - Andere Wertsysteme: Kulturell und religiös anders geprägte Wertesysteme können einerseits die Integration erschweren und andererseits begünstigt das Befolgen der entsprechenden Wertesysteme Verhaltensweisen, die in unserem Wertesystem als deliktisch beurteilt und geahndet werden. Als Beispiel sei die oft erwähnte Verletzung der Ehre erwähnt, die den jungen Männern – in ihrer Sichtweise – keine andere Wahl lässt, als gewalttätig zu intervenieren und so die Ehre wieder herzustellen. In vielen Wertesystemen gilt überdies der selbstverständliche Verhaltenskodex, dass familieninterne Probleme unter keinen Umständen gegen außen kommuniziert werden, was wiederum einen vertrauensvollen Zugang zu den jugendlichen Straftätern erschwert.
Anmerkungen zu Herausforderungen im Jugendstraf- und Maßnahmenvollzug aus entwicklungspsychologischer Sicht
Jugendliche in der Adoleszenz – und dies gilt auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund – streben, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt, nach Unabhängigkeit. Sie wollen sich von den vorgegebenen familiären und gesellschaftlichen Orientierungssystemen emanzipieren. Dazu gesellt sich die nicht minder herausfordernde Aufgabe, die individuelle Persönlichkeit mit ihren Schwächen und Grenzen zu akzeptieren. Beide Aufgabenstellungen kollidieren mit den Gegebenheiten des Straf- und Maßnahmenvollzugs. Dem ausgeprägten Autonomiebestreben stehen die teilweise massiven Einschränkungen einer tendenziell auf größtmögliche Kontrolle bedachten Institution diametral entgegen. Im Rahmen der Untersuchungshaft wird dies exemplarisch an der massiv eingeschränkten Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung sichtbar. Im Maßnahmenvollzug macht vor allem das Korsett an zu akzeptierenden Verhaltensvorgaben und insbesondere die ständige Konfrontation mit unerwünschten Denk- und Verhaltensmustern den Klienten zu schaffen. Überdies widerstrebt das obligatorische Therapiesetting im Zwangskontext des Maßnahmenvollzugs dem Autonomiebestreben vieler junger Straftäter.
Auswirkungen der Untersuchungshaft und daraus resultierende Aufgaben der Seelsorge
Der oft als extrem einschränkend empfundene Entzug von selbstverständlichen Freiheiten in der rigiden Untersuchungshaft führt zu einer Isolation, in der die jungen Männer im wahrsten Sinne des Wortes auf sich selbst geworfen werden. Ich unterscheide dabei zwei Phasen, die die allermeisten Inhaftierten durchlaufen:
1. Phase: Emotionale Phase: Angst, Wut und Verzweiflung
In einer ersten, stark emotional geprägten Phase sind die jugendlichen Inhaftierten oft in einem Wechselbad der Gefühle: Angst vor den drohenden Konsequenzen, der Reaktion der Familie und u.U. dem Verlust der Lehr- oder Arbeitsstelle wechseln sich mit Wut auf „das System“, „die Bullen“ und die untersuchenden Behörden, aber auch auf das eigene Leben. Oft ist der Übergang von der Wut zur Verzweiflung über die eigene Perspektivenlosigkeit und das als schmerzhaft erlebte eigene Leben fließend. In dieser ersten Phase kann es durchaus auch einmal zur Gesprächsverweigerung kommen. Werde ich in dieser ersten Phase als Gesprächspartner akzeptiert, höre ich oft Vorwürfe, Klagen; die Verantwortung wird externalisiert. Als Seelsorger bin ich dann vor allem Anteilnehmer am emotionalen Erleben des Inhaftierten. Das Aushalten von Ohnmacht, Wut und Schmerz, ohne der Versuchung zu erliegen, undifferenzierte Aussagen zu korrigieren oder zu relativieren, ist dabei in hohem Masse vertrauensbildend.
2. Phase: Stabilisierende Phase: Reflexion und Verstehen
Dauert die Untersuchungshaft länger, so schliesst sich an die erste Phase allermeist eine Phase an, in der sich der junge Mann stabilisiert. Oft kommt es dabei zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensvollzug, der Familie und dem Umfeld und somit auch mit der Tat selbst. Als Seelsorger bin ich in dieser Phase vor allem anderen Reflexionshelfer.
Es geht darum, das, was geschehen ist und gerade geschieht, zu verstehen. So werden wir gemeinsam zu ‘Hermeneuten des Lebens’, die das Geschehene in Sprache kleiden, auslegen, interpretieren, einordnen und so in einem Gesamtkontext des Lebens verstehen. Auf diesen Prozess werde ich noch genauer eingehen.
Auswirkungen des Maßnahmenvollzugs und daraus resultierende Aufgaben der Seelsorge
Werden die jungen Straftäter zu einer Maßnahme verurteilt, so haben sie bereits mehr oder weniger lange Zeiten der Untersuchungshaft hinter sich. Auch wenn erfahrungsgemäß die Kooperationsbereitschaft sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, stellen sich die meisten Maßnahmenklienten darauf ein, dass sie für vier Jahre stationär untergebracht sein werden. Besonders einschneidend wird dabei die erste Phase des geschlossenen Vollzugs wahrgenommen, der unterschiedlich lange dauern kann. Die meisten Klienten verbringen in der Geschlossenen Abteilung zwischen ein und zwei Jahren und werden gemäß ihrer individuellen Entwicklung schrittweise geöffnet. Dies bedeutet, dass sie sich temporär und in Begleitung wieder in der Gesellschaft aufhalten dürfen. Die Zeit bis zu diesen Lockerungen des Vollzugs wird von den Klienten als äußerst fordernd und belastend wahrgenommen. Der Maßnahmenvollzug für junge Erwachsene ist geprägt durch ein pädagogisch-therapeutisches Setting, welches für die Seelsorge sowohl Chancen wie auch Gefahren birgt. Sofern die Seelsorge als integraler Bestandteil des erwähnten Settings gesehen wird, erlaubt die interdisziplinäre Zusammenarbeit eine umfassende Sicht und Wahrnehmung des Klienten durch den Seelsorgenden. Andererseits ist diese vernetzte Arbeitsweise, in der der Austausch zwischen den diversen pädagogischen, agogischen und therapeutischen Akteuren gepflegt wird, auch eine Gefahr, dass das Seelsorgegeheimnis im Gespräch mit den genannten Akteuren zumindest ansatzweise geritzt wird.
Durch die verhältnismäßig lange Dauer der Maßnahme, in der Regel vier Jahre, ergeben sich für die Seelsorge besondere Herausforderungen. Fast ausnahmslos kommt es bei den Klienten während dieser Zeit wiederholt zu Motivationseinbrüchen, Sinnkrisen und mitunter zu Versuchen, durch eine Verweigerungshaltung einen Abbruch der Maßnahme zu erzwingen, bzw. anstelle der Maßnahme eine Haftstrafe verbüßen zu können. Die Maßnahme ist daher eher mit einem Marathon als mit einem Sprint zu vergleichen und in dieser kräftezehrenden Zeit gilt es für die Seelsorge zu ermutigen, Hilfestellungen zu bieten, um Krisenzeiten durchzuhalten und dabei immer auch als Klagemauer zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus gilt es – wenn immer möglich – den Hoffnungsaspekt aufrecht zu halten und an einer Zukunftsperspektive festzuhalten oder auch eine solche mehrmals neu zu erarbeiten. Ein gleichsam übergeordnete Kernauftrag, der sich nicht anders als in der Untersuchungshaft immer wieder als zentral in der seelsorglichen Begleitung im Maßnahmenvollzug erweist, ist das gemeinsame hermeneutische Auslegen der gebrochenen Biografie. Zu dieser Hermeneutik des Lebens gehört das gemeinsame Hinterfragen von gescheiterten Lebensentwürfen, das Entwickeln von möglichen Alternativen und das Reflektieren und Erarbeiten von neuen Werten und Haltungen. Im Folgenden soll die Seelsorge in der geschlossenen Unterbringung, verstanden als gemeinsame erarbeitete Hermeneutik des Lebens, vertieft thematisiert werden.
Seelsorge als Hermeneutik des Lebens
Definition
Bei der Hermeneutik des Lebens handelt es sich um einen Prozess, in dem in einer angst- und verurteilungsfreien Beziehung zwischen Seelsorgendem und Klienten das Geschehen des erlittenen und verursachten Leidens und Leids als Ausdruck eines gescheiterten Lebensversuchs erkannt und verstanden wird und gemeinsam alternative und gelingende Lebensentwürfe erarbeitet und die dafür notwendigen Bedingungen bedacht werden.
Voraussetzungen
Dieser sensible Prozess setzt ein hohes Maß an Vertrauen voraus, das a priori oft nicht gegeben ist, jedoch durch das Überwinden der doppelten Hürde der Scham und Sprachlosigkeit gewonnen werden kann. Daher ist eine unabdingbare Voraussetzung einer Hermeneutik des Lebens, dass schambehaftetes Erleben im sozialen und insbesondere familiären Umfeld, sowie das oft nicht minder schambehaftete deliktische Handeln in Sprache ausgedrückt werden kann. Dabei stehe ich als Seelsorger immer wieder vor der Aufgabe, aus schemenhaften oder verklausulierten Andeutungen Schwieriges und Traumatisches zu erahnen, für den Klienten empathisch und ohne Verurteilung zu formulieren, bzw. auszusprechen und so eine gemeinsame Annäherung an die oft schmerzhafte Lebensrealität zu wagen und eine gemeinsame Wahrnehmung derselben Lebensrealität zu gewinnen.
Hermeneutik des Lebens als gemeinsamer Weg des Betrachtens, Suchens, Erahnens und Erkennens
Der Prozess besteht üblicherweise aus den nachfolgend aufgeführten Schritten. Wie oben erwähnt, ist dabei zentral, dass dies in einer zurückhaltenden, empathischen Haltung geschieht. Eine adäquate Metapher für diesen hochsensiblen Prozess ist das Versorgen einer offenen Wunde, die nur mit größter Vorsicht berührt werden sollte.
- Gemeinsames Betrachten des Geschehens: Dabei geht es darum, schwer zu Formulierendes oder gar vermeintlich Unsagbares in Worte zu fassen. Gelingt dies dem Klienten aus den oben erwähnten Gründen nicht oder nur partiell, frage ich oft um die Erlaubnis, für ihn formulieren zu dürfen, was ich aus bereits Angedeutetem erahne. Diese Hilfestellung führt oft dazu, dass die Jugendlichen das von mir Gesagte bestätigen, ergänzen oder auch korrigieren und so selbst Worte für das Geschehen finden. Diese erste gemeinsame Annäherung an ihre Lebensrealität wird von den Jugendlichen zwar meist als schmerzhaft, aber gleichzeitig auch als befreiend und ermutigend erlebt.
- Gemeinsames Suchen und Erahnen von Gründen für das Geschehen: Es ist für die Motivation, einen dysfunktionalen Lebensvollzug zu ändern, entscheidend, dass der Klient im gemeinsamen Betrachten von familiären Hintergründen, sozialen Kontakten und deliktischem Verhalten, Zusammenhänge zu erkennen vermag, die das Geschehen erklärbar oder zumindest verständlicher machen. Dabei handelt es sich nicht um einen therapeutischen Prozess, sondern um ein Erahnen und bestenfalls um ein Erkennen von Zusammenhängen, das – wie bereits erwähnt – dazu beitragen kann, dass der Klient sich für neue Perspektiven, alternative Handlungsstrategien oder gar Lebenskonzepte öffnet und sich darauf einlässt.
- Gemeinsames Erkennen: „Ich darf ein anderer werden!“: Proprium christlicher Seelsorge ist das Menschenbild, das aus der doppelten Unverfügbarkeit einem jeden Menschen, unabhängig von der Schwere seines Scheiterns einen Neuanfang nicht nur zugesteht, sondern ermöglicht. Dieser Neuanfang ist ganz und gar von Gott hergesetzt und geschenkt, in diesem eigentlichen Sinne Gnade und daher sowohl der Verfügungsgewalt des richtenden als auch des gerichteten Menschen entzogen.
Daher darf der Seelsorgende als Ziel des eben beschriebenen gemeinsamen Weges jedem Klienten, sowohl als Conclusio des Erkannten, als auch gleichsam als Zuspruch des Zukünftigen, zusprechen: „Du darfst ein anderer werden!“ Diese, in der gnädigen Zuwendung Gottes begründeten, von jeder menschlichen Vorleistung losgelöste Vergebungshaltung birgt ein großes Veränderungs- und Versöhnungspotential, das in der weiteren seelsorglichen Begleitung, so unverfügbar wie die Gnade selbst, durch den zweifachen Dienst der Diakonia und Martyria im Leben des Klienten real werden darf.
Theologische Reflexion einer biographisch-hermeneutisch orientierten Seelsorge in der Situation des ‘gescheiterten’ Jugendlichen
Grundlage einer hermeneutischen Deutung des Lebens als Weg zur Ermöglichung eines Prozesses des Neuanfangs und der Neuwerdung ist die Theologia Cruxis, die im Leiden und im Kreuz Jesu ein existenzielles Deutungsmuster für das menschliche Scheitern erkennt: Der Weg Jesu ins Leiden und ans Kreuz ist immer auch Vorwegnahme von leidvollem Geschehen in einem jeden Leben. In dieser theologischen Interpretation des Lebens befindet sich jeder Mensch auf seinem je eigenen Leidensweg. Der inhaftierte Jugendliche erlebt im Scheitern und Zerbruch sein „Gethsemane“. Diese pointiert christliche Sichtweise ist dabei keine Vereinnahmung des Gegenübers des Seelsorgenden, da sie lediglich die genuine menschliche Erfahrung des Scheiterns aufnimmt und über den ganzen Begleitprozess implizit bleiben kann. Sofern spirituelle Fragestellungen im Verlauf der Begleitung eine Rolle spielen, kann die theologische Deutung explizit gemacht, bzw. als Deutungsmöglichkeit für das eigene Leben angeboten – oder besser: im gemeinsamen Gespräch gewonnen werden.
Auf der Basis der Theologia Cruxis als Deutungsmuster für das Leben und insbesondere Scheitern des Straftäters ergibt sich für den Seelsorgenden der doppelte Dienst der Diakonia und Martyria. In Anlehnung an das Christusgeschehen geschieht dieser doppelte Dienst in der Hoffnung, dass im Leben des begleiteten Menschen Versöhnung geschehen darf; Versöhnung mit dessen eigener Biografie, mit dessen Mitmenschen und wohl am unverfügbarsten: mit Gott. Paradigmatisch lässt sich der nachfolgend dargelegte zweifache Dienst der Diakonia und der Martyria als Ausdruck einer Hermeneutik des Lebens, an der Begegnung Jesu mit der samaritanischen Frau am Brunnen erkennen (vgl. Johannes 4,4-42).
Eine detaillierte exegetische Betrachtung des Textes würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, aber ich erlaube mir eine summarische Deutung des Geschehens, die mir für die nachfolgenden Ausführungen zum zweifachen Dienst relevant erscheint: In der Begegnung, genauer im Gespräch, begleitet Jesus die Frau zu einem Verständnis ihrer Handlungsweise, das hinter dem Vordergründigen ihrer Männerbeziehungen das eigentlichen Motiv ihrer unbefriedigenden Suche nach Lebendigkeit erkennt. Jesus dient der Frau, in dem er sich ganz und gar auf ihre Situation einlässt und sich gemeinsam mit ihr dem Scheitern in ihrem Leben exponiert. In einem sensiblen seelsorglichen Gespräch bezeugt und offenbart Jesus der Frau seine Mission; nämlich die gesuchte Lebendigkeit in der Begegnung mit ihm zu schenken. Im weiteren Geschehen erfährt die Frau Befreiung aus ihrer Isolation und wird zur Trägerin eines umfassenden Versöhnungsgeschehens, das sie letztlich in die Dorfgemeinschaft reintegriert. In analoger Weise ist dem Seelsorgenden aufgetragen, durch seine Präsenz, sein Reden und Handeln, dieses Versöhnungsgeschehen potenziell zu ermöglichen.
Der Dienst der Diakonia
In Anlehnung an die obige Begegnung erlebe ich es als entscheidend für eine vertrauensvolle seelsorgliche Beziehung, dass ich unvoreingenommen Anteil nehme am Leben des jugendlichen Straftäters. Dazu gehört, dass ich unabhängig von der Schuldfrage an der aktuellen Lebenssituation meines Gegenübers ‘mitleide’. Dies geschieht, indem ich empathisch das geschilderte Schmerzhafte teile, im Gespräch die nötigen Hilfestellungen beim Ordnen, Auslegen und Verstehen der geschilderten Ereignisse anbiete und dabei auch meine Betroffenheit für mein Gegenüber erkennbar und erfahrbar wird. Dabei kann sich ein geschützter Raum eröffnen, in dem der Jugendliche sowohl erlittenen, als auch verursachten Schmerz zulassen, anerkennen und ansprechen kann. Oft sind dies hochemotionale und tränenreiche Momente des Offenbarwerdens von eigentlichen Motiven hinter dem Vordergründigen. Allein schon das gemeinsame Aushalten dieser ‘Kreuzeserfahrung’ beinhaltet ein heilendes Potenzial, das sich allerdings oft erst in nachfolgenden Gesprächen erweist, in denen gemeinsam erahnt werden darf, dass gerade weil Schmerz, Scham und Schuld ausgesprochen, betrachtet und durchgelitten wurden, sich eine Perspektive aus der Vergebungshoffnung eröffnet: „Ich darf ein anderer werden!“ Diese Perspektive erfordert nun den Dienst der Martyria oder anders formuliert, den Zeugen, der für den Neuanfang gegen jede und trotz jeder Erfahrung des Scheiterns zeugt.
Der Dienst der Martyria
Aus christlicher Perspektive ist die Auferstehung Jesu das Ja Gottes zu einem Neuanfang, der allein in seinem Wesen begründet ist und nicht nur vollständig unabhängig von menschlichem Handeln ist, sondern sich auch jeglicher menschlich geforderten Kausalität von Schuld und Sühne entzieht. Die Auferstehung Jesu steht für den Neuanfang unabhängig eines jeden menschlichen Urteilens über ein Leben und auch unabhängig von menschlichem Verurteilen gescheiterter Lebensversuche. Dies ist das Proprium christlicher Verkündigung und darin die Ermöglichung von Neuanfang auch in Leben, die aus menschlicher Perspektive entweder wenig Hoffnung oder kein Recht auf Gnade erheben können. Dieser Neuanfang ist jedoch keinesfalls lediglich ein gutes Zureden ohne Klärungs- und auch Läuterungsprozess. Wäre es so einfach, wäre der Vorwurf der „billigen Gnade“ mehr als berechtigt. Dietrich Bonhoeffer kritisierte die Verkündigung ohne Busse aufs Schärfste als „billige Gnade“ bzw. missverstandene Rechtfertigungslehre. (vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 14)
Im Kontext der Gefängnisseelsorge bedeutet dies, dass Vergebung und Versöhnung das Bewusstwerden und Anerkennen von verursachtem Leid voraussetzt. Weder das eine noch das andere sind dabei den Beteiligten verfügbar und darum Gnade; geschenkte Zuwendung Gottes. Dieser Neuanfang lässt sich nur ergreifen, wenn sich auf dem gemeinsamen Weg der seelsorglichen Begleitung ein Vergebungsgeschehen ereignet, das ebenso unverfügbar wie die Versöhnung ist: Vergebung, die in Anbetracht des sowohl verschuldeten als auch leidvollen Geschehenen aus dem Zuspruch Gottes erkannt und angenommen und – weil sie ganz und gar unverdient geschenkt ist – auch weitergegeben werden will. So ist es mein stetes Hoffen, dass sich im Zuspruch des „Du darfst ein anderer werden!“ sich das Erkennen der Notwendigkeit von Vergebung ereignet und in der Annahme und Weitergabe derselben ein zuerst meist zaghaftes, doch dann immer zuversichtlicheres „Ich darf ein anderer werden“ resultiert. Der Dienst der Martyria des Seelsorgenden besteht dabei aus dem Bezeugen dieser Möglichkeit als grundlegende Wahrheit gegen alle menschlich verständlichen Vorbehalte und Einwände und aus dem Eintreten für diese Möglichkeit gegen alle Selbstzweifel und Selbstablehnung, die ihm vom jugendlichen Straftäter entgegenkommen mögen.
Fazit
Die besonders verletzliche Situation von jugendlichen Straftätern mit psychosozial belasteten Biografien, konfrontiert mit den Herausforderungen der Adoleszenz in einem Zwangskontext, erfordert eine hochsensible Vorgehensweise des Seelsorgenden. Es geht darum, die Begegnung als Möglichkeit wahrzunehmen, den jungen Menschen beim Betrachten, Verstehen und Benennen seiner schmerzhaften Erfahrungen des Scheiterns zu unterstützen und so gemeinsam eine Hermeneutik des Lebens, eine Auslegung des Lebensgeschehens, zu ermöglichen. Dies geschieht in der Haltung des zweifachen Dienstes, die es dem Gegenüber ermöglicht, seinen Schmerz mitzuteilen und so zu teilen und gleichzeitig in adäquater, den vulnerablen Umständen Rechnung tragend, eine realistische Hoffnungsperspektive zu entwickeln, die ihren Grund und ihr Recht im unverfügbaren Vergebungspotenzial des Kreuzesgeschehens hat und an der vom Seelsorgenden, gegen alle eigen- und fremdverantworteten Bedenken oder gar Negierungen, festzuhalten ist.
Markus Giger ist Gefängnisseelsorger im Jugendmaßnahmenzentrum Uitikon (MZU) und in der Durchgangstation Winterthur (DSW).
Er ist theologische Leiter der streetchurch und Pfarrer der reformierten Kirche Zürich.
Erstveröffentlichung in: Seelsorge und Strafvollzug.ch